Pressemitteilung 23.06.2010 // Informationen zu Abschiebeversuchen und Protesten in Göttingen
Nachfolgend eine Pressemitteilung des Arbeitskreis Asyl Göttingen vom 23.06.2010:
Informationen zu Abschiebeversuchen und Protesten in Göttingen
In der Nacht vom 21. auf den 22. Juni sollte nach Plänen des Niedersächsischen Innenministeriums die Abschiebung von fünf Flüchtlingsfamilien (insgesamt 22 Personen) aus der Stadt Göttingen in die Republik Kosovo erfolgen. Die Familien sollten zwischen zwei und drei Uhr durch die Polizei und Mitarbeiter_innen der hiesigen Ausländerbehörde in ihren Wohnungen im Rosenwinkel aufgesucht werden, um sie dann zum Flughafen Düsseldorf zu bringen. Von dort sollten sie mit einer Maschine der Fluggesellschaft Air Berlin nach Pristina ausgeflogen werden. Eigens dafür hatte die EULEX-Kosovo (Rechtsstaatlichkeitskommission der Europäischen Union im Kosovo) einen Abschiebeflug organisiert. Die Maschine sollte bei einer Zwischenlandung in Wien weitere Flüchtlinge für die Abschiebung aufnehmen.
Am 22. Juni trafen sich gegen 1:00 Uhr etwa achtzig Unterstützer_innen im Rosenwinkel in der Göttinger Weststadt, um gegen die geplanten Abschiebungen zu protestieren und um Widerstand dagegen zu praktizieren. Vor der Haustür der betroffenen Flüchtlinge bildeten sie Menschenketten und versperrten damit den Zugang. Außerdem zeigten sie themenbezogene, antirassistische Transparente. Um ca. 1:55 Uhr trafen vier Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei ein. In ihrer Begleitung waren auch Mitarbeiter_innen der Göttinger Ausländerbehörde. Nachdem die Beamt_innen Aufstellung bezogen hatten, versuchte ein Polizist sich Zugang zum Haus zu verschaffen. Er wollte überprüfen, ob die zur Abschiebung vorgesehenen Menschen anwesend sind und sie für den Transport zum Abschiebeflugzeug abholen. Aufgrund der von den Protestierenden gebildeten Menschenketten gelang es ihm nicht, das Haus zu betreten. Daher war es ihm nicht möglich zu überprüfen, ob sich die Flüchtlinge im Haus befanden. Nach 45 Minuten brach der Einsatzleiter den Einsatz ab und gab den Befehl abzurücken. Seiner Aussage nach soll nun per Haftbefehl nach den Flüchtlingen gefahndet werden, da diese angeblich nicht anzutreffen gewesen seien und sich damit ihrer Abschiebung entzogen hätten.
Nicht nur durch den Einsatz der Aktivist_innen im Rosenwinkel wurden Flüchtlinge von der Sammelabschiebung ins Kosovo vorerst verschont: Drei junge Menschen fanden mit Hilfe des Migrationsbeauftragten der evangelisch-lutherischen Landeskirche, Pastor Peter Lahmann, und weiteren Unterstützer_innen Kirchenasyl in der Göttinger Christophoruskirche. Auf einer Pressekonferenz am 22. Juni wurde das Kirchenasyl öffentlich bekannt gegeben und weitere Optionen wurden erläutert. Die Pastorin der asylgewährenden Kirchengemeinde, Elke Reichardt, sprach in diesem Zusammenhang von einer christlichen Verpflichtung, in Not geratenen Menschen zu helfen.
Zwei weitere Familien aus der Stadt Göttingen und eine Familie aus dem Landkreis stellten beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Braunschweig Asylanträge. Zwei dieser Anträge wurden bis zum jetzigen Zeitpunkt formal angenommen, sodass bis zur endgültigen Entscheidung darüber ein Abschiebestopp für die Familien besteht. Ein anderes Ehepaar ist aus gesundheitlichen Gründen im Krankenhaus aufgenommen worden. Ihr 12-jähriger Sohn befindet sich deswegen derzeit mit seinen älteren Brüdern im oben genannten Kirchenasyl. Bei einer achtköpfigen Familie aus dem Landkreis Göttingen und einer zweiköpfigen Familie aus der Stadt wurden die Abschiebungen durch das Verwaltungsgericht am 21. Juni gestoppt. Die Frau der letztgenannten Familie befindet sich im letzten Drittel ihrer Schwangerschaft, so dass sie bis zu sechs Wochen nach der Geburt des Kindes nicht abgeschoben werden darf.
Am Abend des 22. Juni kam es in der Göttinger Innenstadt zu öffentlichen Protesten gegen die aktuellen Abschiebeversuche und durchgeführten Abschiebungen. Die Demonstrierenden kritisierten das europäische Migrationsregime als Ganzes und bezeichneten die deutsche Asylgesetzgebung als „rassistische Sondergesetzgebung“. Da zeitgleich der alljährliche „Göttinger Altstadtlauf“ stattfand, nutzten die Demonstrant_innen diesen Anlass, um die große Menge der Zuschauer_innen und Teilnehmer_innen zu informieren. Sie führten antirassistische Schilder mit, verteilten sich um die Absperrungen der Laufstrecke und formulierten lautstark die Forderung nach einem Abschiebestopp. Die spontane Teilnahme einzelner Demonstrant_innen am Altstadtlauf wurde nach wenigen Metern von der Polizei gestoppt. Um 19 Uhr trafen sich die Demonstrierenden am Wilhelmsplatz und bildeten dort einen Demonstrationszug, der sich dann in Richtung Barfüßerstraße bewegte. Noch vor Erreichen der Jüdenstraße hielt die Polizei den Zug an und versuchte, diesen abzuschirmen. Dabei sei es nach Angaben von Teilnehmer_innen zu Handgreiflichkeiten durch Polizist_innen gekommen, die Demonstrant_innen dabei ins Gesicht geschlagen haben sollen. Die Demonstrationsteilnehmer_innen versuchten daraufhin eine alternative Route zu finden. Nach Verhandlungen mit der Einsatzleitung der Polizei sei eine kurze Route genehmigt worden. Diese Genehmigung sei jedoch nach kürzester Zeit wieder zurückgezogen worden, da sich die Teilnehmenden nicht an die gestellten Auflagen gehalten haben sollen. Unter Androhung von Zwangsmaßnahmen wurde die Demonstration schließlich in der Jüdenstraße aufgelöst.
Der Arbeitskreis zur Unterstützung von Asylsuchenden e.V. verurteilt die menschenverachtenden Abschiebungen und Abschiebeversuche. Des Weiteren verurteilt er den Einsatz von Gewalt, um die Proteste dagegen zu ersticken und zu diskreditieren. Er fordert einen sofortigen Abschiebestopp für die betroffenen Flüchtlinge ins Kosovo und überdies ein generelles, uneingeschränktes Bleiberecht. Gleichzeitig ruft er zu weiteren Protesten auf und fordert erhöhten Druck auf die politischen Entscheidungsträger_innen und Funktionsträger_innen in den Exekutivorganen.
Der Arbeitskreis dankt den Aktivist_innen für ihr Engagement. Unsere Solidarität gilt den Flüchtlingen, die am 22. Juni abgeschoben wurden.
Für weitere Informationen zu den Hintergründen der aktuellen Geschehnisse verweisen wir auf unsere Pressemitteilung vom 21. Juni 2010.