PM vom 03.04.2020: "Die (lebens)gefährliche Situation für Geflüchtete in Massenunterkünften - sowohl hier, als auch auf den griechischen Inseln und anderswo."
Angesichts politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen in Deutschland und anderen EU-Staaten, in denen Konkurrenz, Gesetzesverschärfungen, Überwachung, Kontrolle, Autoritarismus, Rassismus und Faschisierung immer offener ausgetragen und sichtbarer werden, macht die aktuelle Corona-Krise all diese Dynamiken nur noch deutlicher. Je nach ökonomischem Interesse werden Grenzen geschlossen - oder nun für Erntearbeiter*innen doch begrenzt geöffnet? - die Freiheit von Menschen beliebig eingeschränkt; Versammlungen werden unterbunden und Kontakte untereinander überwacht; Bewegungsprofile von Personen werden erstellt - und all das ganz zur "Sicherheit der (weißen) europäischen Bevölkerung". Vieles wird in Bewegung gesetzt, um die Verbreitung von Covid-19 zu unterbinden und einen Umgang damit zu finden. Doch wem soll dieser Schutz und die Sicherheit gelten und wieviele Menschen werden dabei von der Regierung und der Gesellschaft vergessen und außer acht gelassen? Millionen von Menschen sitzen weltweit in riesigen Geflüchtetencamps wie in Lybien, in Gefängnissen wie in der Türkei, in Lagern wie in Moria auf Lesbos oder in Massenunterkünften wie auch hier in Göttingen fest. All diese Orte mit ihren miserablen und menschenverachtenden Lebensbedingungen werden aktiv von der Bundesregierung (mit)getragen - in dem Wissen um die Unmöglichkeit der Einhaltung von Maßnahmen, die eine Covid-19-Katastrophe an diesen Orten verhindern könnten. Während für deutsche Bürger*innen alles mögliche unternommen wird, werden all die Menschen an den aufgezählten Orten (bewusst) nicht gehört und gesehen - trotz der lautstarken Widerstandsrufe. Ende Februar gab es viel Aufmerksamkeit für die Lage an der türkisch-griechischen Grenze, nachdem Erdogan den EU-Türkei-Deal aussetzte und Geflüchtete an der Grenze nach Griechenland - der EU-Außengrenze - aus machtpolitischen und strategischen Gründen nicht mehr zurückgehalten hat. Die Situation an der Grenze war und ist noch immer erschütternd und geprägt von ausufernder Entrechtung, Gewalt und Rassismus. Griechische Grenzbeamt*innen, deutsche Polizist*innen des EU-Grenzschutzes (Frontex etc.) wehren Geflüchtete brutal ab und es werden Schusswaffen eingesetzt, wobei mehrere Menschen von der griechischer Grenzpolizei erschossen und dutzende Menschen schwer verletzt wurden. Inzwischen hat die türkische Polizei ihre Taktik geändert: Lager von Fliehenden vor der griechischen Insel wurden in Brand gesetzt und die Menschen in überfüllten Abschiebegefängnissen zusammengepfercht. Griechenland setzt das Asylrecht mit Ansage aus; das heißt seit dem ersten März können Neuankommende keinen Antrag mehr stellen. Dies bedeutet, dass ankommende Menschen sofot inhaftiert, auf einem Kriegsschiff oder an den Stränden wochenlang eingepfercht werden. Es werden massenhaft gewaltvolle und zudem illegale (wen interessiert Recht und Gesetz schon noch?!) Pushbacks durchgeführt. Hinzu kommen Angriffe von Faschist*innen auf ankommende Menschen, auf Boote, auf solidarische Aktivist*innen und Strukturen. Europaweite Aufrufe von Nazis wurden laut, insbesondere der Identitären Bewegung (IB), nach Griechenland zu reisen, um "die europäischen Außengrenzen zu verteidigen". Man sollte meinen, dass solche Situationen bei Menschen Wut auf die Tatenlosigkeit der europäischen Regierungen oder Erschütterung über die Missachtung von Grund- und Menschenrechten durch EU-Beamt*innen auslösen. Aber nein! Die EU bewilligt 700 Millionen Euros, um Griechenland im sogenannten"Grenzschutz" zu unterstützen und lobt zudem noch die europäische Abschottung durch seine Grenzschützer*innen (EU-Kommissions-Präsidentin von der Leyen). Und wofür? Für Gewalt, Rassismus, Mord! Seit bald zwei Wochen werden die Geschehnisse an der türkisch-griechischen Grenze und an vielen anderen Orten in den Mainstream-Nachrichten jedoch nur noch von Corona überdeckt. Dabei müsste gerade die Ausbreitung des Covid-19-Virus stark in Zusammenhang mit dem in alter Tradition von Deutschland und der EU betriebenen Lagersystem gebracht werden. Denn dieses ist und wird nun in Corona-Zeiten immer gefährlicher bis tödlich! Im Camp Moria auf Lesbos werden Menschen nun abgeriegelt, NGOs abgezogen, die basale Versorgung mit z.B. ausreichend Wasser eingeschränkt. Es gibt keine Quarantänemöglichkeiten und 20 000 Menschen werden auf engstem Raum unter hygienisch katastrophalen Bedingungen sich selbst überlassen - obwohl selbst in den Medien schon von einem potentiellen "Massensterben" gesprochen wird. Im Lager Ritsona bei Athen wurden z.B. bereits 21 Covid-19-Fälle nachgewiesen und das Lager wurde einfach abgeriegelt (https://www.dw.com/de/corona-griechenland-stellt-fl%C3%BCchtlingslager-u...). Angesichts der verschärften Lage durch den Covid-19-Virus ist die Unterbringung von Menschen in Lagern und Massenunterkünften unverantwortlich und widerspricht jeglichen Schutzmaßnahmen, die nun seit Wochen allen Bürger*innen tagein tagaus eingeimpft werden- hier wird deutlich, für wen all diese Schutzmaßnahmen gelten sollen und wer dabei hinten runter fällt oder gar vergessen wird. Auch hier in Göttingen gibt es eine Reihe an Massenunterkünften, welche auch unter diesen angespannten Verhältnissen weiter betrieben werden. Betreiber*innen der Camps in Göttingen sind die Johanniter, das Deutsche Rote Kreuz (DRK) und Bonveno. Zu einigen der Unterkünfte wurde Kontakt aufgenommen und mit Bewohner*innen gesprochen, um zu erfahren, wie es den Menschen dort geht, wie Betreiber*innen mit Schutzmaßnahmen umgehen und Verantwortung übernehmen und ob es bereits Corona-Fälle oder Menschen, die in die Risikogruppe fallen, gibt. Die Erkenntnisse waren, wie zu erwarten, ernüchternd bis erschreckend. So müssen sich Menschen in einigen Unterkünften noch immer zu viert ein Zimmer teilen; es gibt teilweise Gemeinschaftsduschen und -küchen, die von mehr als zehn Personen genutzt werden, sowie oftmals kaum Zugang zu notwendigen Informationen oder ausreichend Desinfektionsmittel. Während wir alle jeden Tag aus allen öffentlichen Kanälen gesagt bekommen, wir sollen Abstand halten, soziale Kontakte reduzieren oder zuhause bleiben, kann aufgrund dieser strukturellen Bedingungen, all das von tausenden Menschen nicht eingehalten werden, weil sie nicht die Chance dazu bekommen. Gleichzeitig stehen überall in Europa, in Deutschland und so auch hier in Göttingen unzählige Hotels, Hostels und Jugendherbergen leer, die genutzt werden könnten, um all diese Schutzmaßnahmen zu gewährleisten. Menschen in Lagern unterzubringen ist auch ohne Corona eine strukturelle Diskriminierung; in der aktuellen Situation ist es völlig verantwortungslos und nicht hinnehmbar. Wir beziehen uns mit diesem Statement auch auf andere, vorausgegangene Statements und Aufforderungen an die Stadt Göttingen endlich aktiv zu werden und Menschen aus den Massenunterkünften zu evakuieren und vorhandene Kapazitäten zu nutzen! Unter anderem von Rechtsanwalt Sven Adam (siehe: http://www.anwaltskanzlei-adam.de/index.php?id=36,1510,0,0,1,0), Pro Asyl (https://www.proasyl.de/news/covid-19-und-fluechtlingspolitik-was-deutsch...) sowie die "Forderungen für Sofortmaßnahmen an den Rat der Stadt Göttingen in Zeiten der Corona-Pandemie" durch das solidarische Hausprojekt OM10 (https://omzehn.noblogs.org/?p=1546). Für deutsche Tourist*innen wird derzeit das größte Rückholprogramm der deutschen Geschichte durchgeführt, das Millionen Euros kostet und Menschen aus aller Welt zurück nach Deutschland holt. Währenddessen werden Resettlement-Programme wegen der Pandemie ausgesetzt und die EU und die Bundesregierung schaffen es nicht, eine lächerliche Zahl von 1500 Menschen aus den griechischen Lagern (wie zugesagt!) zu evakuieren und unter menschenwürdigen Bedingungen wohnen zu lassen; geschweige denn im eigenen Land Menschen zu evakuieren und menschenwürdige Unterbringungen in so prekären Zeiten bereitzustellen! Shame on you, Germany. Shame on you, EU! Wir fordern, alle Geflüchtetencamps und Massenunterkünfte sofort zu evakuieren - in Griechenland, in Göttingen und überall! Es gibt genug Platz und Ressourcen, um Menschen hier aufzunehmen und unter würdigen, sicheren Bedingungen dezentral, statt in Lagern unterzubringen. Wohnungsleerstand und Hotels müssen genutzt werden. Geldleistungen müssen für 3 Monate im voraus ausgegeben werden. Mehr Infos zur aktuellen türkischen Inhaftierung der Menschen und dem Abbrennen der Zeltstädten an der Grenze: https://twitter.com/crossbordersol1/status/1243898860336025600 https://greekcitytimes.com/2020/03/27/turkish-authorities-set-fire-to-ca...