Kein Schlussstrich! 5 Jahre NSU-Prozess
Kein Schlussstrich!
5 Jahre NSU-Prozess
Aufruf gemeinsam am Samstag nach der Urteilsverkündung im NSU-Prozess auf die Straße zu gehen. Treffpunkt 12:00 Uhr am Wilhelmsplatz!
Am 6. Mai 2013 begann vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gegen Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Schultze. Voraussichtlich im Frühjahr 2018 wird der Prozess nach über 400 Verhandlungstagen zu Ende gehen. Unabhängig davon, welchen Ausgang der Prozess nimmt: Für uns bleiben mehr Fragen als Antworten. Wir werden den NSU nicht zu den Akten legen.
Wir wollen wissen, wer für die Mordserie, die Anschläge und den Terror verantwortlich ist. Die Beschränkung der Bundesanwaltschaft auf das Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe und ihr nächstes Umfeld ignoriert den Netzwerkcharakter des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Der NSU war keine isolierte Zelle aus drei Personen, der NSU war auch mehr als die fünf Angeklagten vor dem Oberlandesgericht. Nicht zuletzt die Arbeit der Nebenklage hat diese Grundannahme längst widerlegt. Ohne militante Nazi-Strukturen wie Blood & Honour, lokale Kameradschaften oder etwa den Thüringer Heimatschutz um V-Mann Tino Brandt und Ralf Wohlleben, wäre der NSU wohl schwer möglich gewesen. Die Aufklärung im Rahmen des Prozesses wurde jedoch konsequent unterbunden, auch durch die eng geführte Anklageschrift der Bundesanwaltschaft und die Weigerung, der Nebenklage komplette Akteneinsicht zu gewähren.
Es geht uns um die Entschädigung der Betroffenen, Überlebenden und Hinterbliebenen sowie die Würdigung ihrer Perspektive in der Debatte. Es war gerade auch das Umfeld der Mordopfer, das früh darauf bestand, eine rassistische Motivation für die Taten in die Ermittlungen einzubeziehen. Etwa auf den Schweigemärschen in Kassel und Dortmund, die unter dem Motto „Kein 10. Opfer!“ die Aufklärung der Mordserie forderten. Stattdessen richteten sich die Untersuchungen vornehmlich gegen das Umfeld der Opfer und Betroffenen. Immer wieder gerieten auch Hinterbliebene der Ermordeten ins Visier der Behörden. Aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft konnten sie keine große Anteilnahme erwarten: als Menschen mit Migrationsgeschichte durften sie nicht einfach Opfer sein – etwas potentiell Kriminelles, irgendwie Gefährliches musste doch an ihnen haften. Dies zog sich wie ein roter Faden durch die Ermittlungen, sowohl bei den „Česká-Morden“ als auch bei den Anschlägen des NSU, etwa auf die Kölner Keupstraße, und das obwohl zum damaligen Zeitpunkt keinerlei Verbindung zwischen den Taten zu bestehen schien. Doch es gab diese Verbindung: die Ermordeten, die Verletzten, die Attackierten waren durch ihre Migrationsbiografie ins Visier des rassistischen Terrors geraten. Und es waren rassistische Ressentiments bei Polizei und Sicherheitsbehörden, welche die Ermittlungen in die Irre führten, es waren rassistische Klischees, die Presseberichterstattung und Öffentlichkeit dazu brachten, die fantastischen Erzählungen von mafiösen und kriminellen Verstrickungen der Betroffenen zu verbreiten.
Wir müssen über Rassismus reden. Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem. Und das gilt wortwörtlich: Diese Gesellschaft hat ein Rassismusproblem, und zwar ein gewaltiges. Rassismus wird dabei fälschlicherweise oft nur bei klassischen Neonazis verortet. Ebenso findet sich Rassismus auch jenseits der sogenannten Neuen Rechten, die sich hinter den Bannern von AfD, Pegida und Konsorten versammeln. Rassismus findet sich in Ämter- und Behördenpraxis, Polizeiarbeit, der Art wie gesellschaftliche Ressourcen und Teilhabe verteilt werden. Rassismus findet sich in marktschreierischen Wahlkampfauftritten wie auch in subtil und vornehm formulierten Leitartikeln. Rassismus zieht sich durch die ganze Gesellschaft: Weil die Gesellschaft, wie sie derzeit eingerichtet ist, Hierarchie, Ausbeutung und Ausgrenzung zwingend hervorbringt und legitimieren muss. Weil eine von Herrschaft durchzogene Gesellschaft, in der Ressourcen und Positionen ungleich verteilt und umkämpft sind, nicht allein durch den Bezug auf eine angebliche gemeinsame „Kultur“ zusammengehalten werden kann, sondern die Abwertung anderer „Kulturen“ benötigt. Weil die „eigene“ Identität stabilisiert wird, indem negative Elemente auf die Projektion der „Anderen“ abgewälzt werden.
Wir fordern die Abschaffung des Verfassungsschutzes. Der Verfassungsschutz wusste nicht zu wenig, sondern zu viel. Das wurde bereits in den ersten Wochen nach der Selbstenttarnung des NSU deutlich. Doch während Image und Legitimität des Inlandsgeheimdienstes zumindest zwischenzeitlich Schaden nahmen und viele Stimmen bis weit ins bürgerliche Lager seine Abschaffung forderten, ging er letztlich doch unbeschadet aus der Affäre und steht mittlerweile wahrscheinlich sogar besser da als zuvor. Er konnte nicht nur seine gesellschaftliche Reputation wiederherstellen, sondern sogar seine Befugnisse ausweiten. Für uns ist die Sache jedoch nicht erledigt: Für uns bleiben Fragen: Fragen bezüglich der wiederholten, planmäßigen Vernichtung relevanter Akten; Fragen zur Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme, der sich im Internetcafé Halit Yozgats aufhielt, als dieser ermordet wurde, und angeblich nichts bemerkt haben will; Fragen zu V-Mann Piatto, der schon 1998 wichtige Hinweise über die untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe weitergab; Fragen zu Ralf Marschner, der als V-Mann Primus im Kontakt mit den Untergetauchten gestanden haben soll. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Im Kampf gegen rechte Strukturen schließen wir uns nicht den wiederkehrenden Rufen an, der Verfassungsschutz solle künftig bitte auch diese oder jene rechte Gruppe beobachten. Nazis sind auch ohne Gelder, Aufbauarbeit und logistische Unterstützung des Geheimdienstes gefährlich genug. Mindestens diese Lehre sollte aus dem NSU gezogen werden.
Wir wehren uns gegen rassistische Stimmungsmache und Gewalt. Der NSU war nicht die erste Neonazi-Terrororganisation und es sieht auch nicht so aus, als sei er die letzte gewesen. In den letzten Monaten laufen und liefen mehrere Prozesse gegen Zusammenschlüsse wie die „Oldschool Society“ oder die „Gruppe Freital“. Daneben häufen sich die Meldungen von immer neuen Waffenfunden bei rechten Strukturen, immer neue gewaltbereite rechte Organisierungsansätze sprießen regelrecht aus dem Boden. Die Zahl der Brandanschläge und rassistischen Übergriffe ist in den letzten Jahren gravierend angestiegen. Und während sich der nette Herr von nebenan im Internet mit „Migrantenschreck“ genannten Schusswaffen eindeckt, legen die Entscheidungsträger_innen mit dem Abbau des Asylrechts und neuen Integrationsgesetzen vor, setzen Ausländerbehörde und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Abschreckung, werden Sammelabschiebungen auf den Weg geschickt und Abschiebelager hochgezogen.
Nach fünf Jahren lässt sich ein frustrierendes Fazit ziehen. Noch immer wird rechte Gewalt verharmlost, noch immer darf sich der Verfassungsschutz als Beschützer inszenieren, noch immer hat diese Gesellschaft Rassismus nicht überwunden, noch immer ist es nötig auf den institutionellen Rassismus in Deutschland hinzuweisen, wie das erst jüngst die UN und Nichtregierungsorganisationen getan haben und wie es Selbstorganisierungen von Betroffenen nicht erst seit gestern tun. Es wurden von Seiten der Mehrheitsgesellschaft keine erkennbaren Lehren aus dem NSU gezogen. Höchste Zeit also, dass sich das ändert. Initiativen wie „Keupstraße ist überall“ oder das „NSU-Tribunal“ und die zahlreichen Vereinigungen die lokal im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des NSU zusammen kamen, haben vorgemacht wie es geht.
Am Samstag nach der Urteilsverkündung wollen wir mit euch auf die Straße gehen. Denn für uns bedeutet das Ende des Prozesses nicht das Ende der Auseinandersetzung mit dem NSU und der Gesellschaft, die ihn möglich machte:
Kein Schlussstrich! – NSU-Komplex aufklären und auflösen!
Verfassungsschutz auflösen – V- Leute abschaffen!
Dem aktuellen rassistischen Terror gegen Flüchtlinge und Migrant_innen entgegentreten!
Rassismus in Behörden und Gesellschaft bekämpfen!
Kontakt: keinschlussstrich-goe@riseup.net
Mehr Infos findet ihr unter www.nsuprozess.net
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NO CLOSURE!
5 years of NSU-Trial
Call to unite and protest on Saturday after the announcement of the verdict at 12:00 o`clock at Wilhelmsplatz.
On March 6th 2013, the court case against Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben and Carsten Schultze was opened at the Oberlandesgericht (somewhat like the Crown Court in GB) in Munich. Probably in spring 2018, the trial will end after more than 400 days of hearings. Regardless of the outcome: There are more questions than answers left. Therefore, we want to take our protest to the streets. Because we do not consider the NSU case done.
We want to know who was responsible for the murders, the attacks and the terror. The fixation of the prosecution on Böhnhardt, Mundlos and Zschäpe and their close environment ignores the network structure of the National Socialist Underground. The NSU was not an isolated Group of three people, it was not just the five accused before the court. This thinking has been disproven on multiple accounts. Without militant Nazi organizations like Blood & Honour, local fascist groups or the Thuringian home front around covert informants Tino Brandt and Ralf Wohlleben the NSU would have been hardly able to act. The investigation regarding this has been shut down consequently during the process by denying accessory prosecutors access to investigation files and such. Our aim is the compensation of the victims, survivors and relatives as well as the acknowledgement of their point of view in the matter. Especially those close to the victims were the first to suggest that the killings might be motivated by a racist agenda, for example the silent marches in Kassel and Dortmund under the slogan „No 10th victim“, where the reconnaissance of the murder series was demanded. Instead, the investigation focused on the social environment of the victims. Every so often even their bereaved relatives were prime suspects to the police. There was little sympathy from the majority of the German society; as people with a migratory background they could not possibly be only victims; some criminal or dangerous connection was automatically assumed. This premise was visible throughout the entire investigation, whether the so-called „Česká-Murders“ as well as with the attacks on for example the Keupstraße in Cologne, although there was seemingly no connection between those. However, the connection was there: the murdered, injured and attacked were targeted solely because of their foreign background. Racial resentments within the police, racial stereotypes in media and public opinion led to false charges and imaginary stories of „mafia structures“ and criminal involvement of the victims. We need to talk about racism. Racism is a problem of society. This is meant quite literally; our society has a racism problem, and a big one for that. Racism often is pinned only on stereotypical neo fascist. However, it can be found not only within the „New Right“, who rally behind the likes of AfD, PEGIDA and such. It can be found in government offices, police work, the distribution of public resources and participation rights. Racism can be found in lurid election campaigns as well as in elegantly written editorials. Racism runs through our entire society, for it is built on hierarchy, exploitation and discrimination. A Society who is built upon the rule of power and the unfair distribution of wealth and influence cannot only exist by appealing to a so-called „common culture“, but must also devalue other cultures as inferior. To be assured of its own „identity“, negative attributes are projected on „the others“. We demand the dissolution of the „Verfassungsschutz“, the German secret service for homeland affairs. They knew too much instead of too little. This was already confirmed within the first weeks after the self-exposure of the NSU. However, while the image and legitimation of the „Verfassungsschutz“ took a blow at least temporarily and many voices demanded their dissolution, in the end they emerged even stronger and unscathed. Nowadays they have even more authority than before. For us, this is unacceptable. We demand our questions to be answered: questions regarding the repeating systematical disposal of relevant files, questions about the involvement of Verfassungsschutz operative Andreas Temme, who was present at the internet café of Halit Yozgat when he was killed and denied having observed anything; questions about covert informant Piatto, who as early as 1995 gave important information about Böhnhardt, Mundlos and Zschäpe, who had gone underground by then; questions regarding Ralf Marschner, who seems to have been in contact with the fugitives. The list goes on. In our fight against rightist structures we do not follow the repeating demands to infiltrate this fascist group or that right wing organization, this inevitably being accompanied by financing those as seen multiple times in the past, making them even more dangerous and effective. At least this lesson should be taken from the NSU trial.
We oppose racist propaganda and violence. The NSU has not been the first neo fascist terror organization and it does not seem like it will be the last. During the last couple of months, there have been multiple trials against groups like the „Oldschool Society“ and „Gruppe Freital“. Beside this, there are increasing reports about seized weapons from rightist structures and the emerging of new violent gangs. The number of arsons and hate crimes has been skyrocketing. Moreover, while the nice senior next door is stockpiling compliance weapons ordered from the internet, those in power are constantly cutting back on the right for asylum by implementing so called „integration laws“, building deportation camps and relocating refugees back into war zones.
After five years of trial, the result is upsetting. Rightist violence is played down, the Verfassungsschutz still pitches oneself as „protector“ of the constitution and such, racism within our society is far from being overcome and still needs to be pointed out by the UN and NGOs as recently done by them. It seems that the public has learned nothing from the crimes committed by the NSU. Now is the time to change this! Initiatives like „Keupstraße is everywhere“ or the „NSU-Tribunal“ and the numerous local groups working to unravel the deeds of the NSU have demonstrated how it can be done. On saturday after of the announcement of the verdict, we want to bring our protest to the streets! Come and join us! Because for us, the end of the trial does not end our debate with the National Socialist Underground and the society which brought him into being.
No Closure – Complete investigation of the NSU complex!
Dissolve the homeland security – Abolition of covert informants!
Oppose racist terrorism against refugees and migrants!
Fight Institutional racism!
Contact: keinschlussstrich-goe@riseup.net
More information about activities in Munich on the day of the verdict www.nsuprozess.net