Stellungsnahme von AK Asyl und antirassistisches Aktionsplenum Göttingen zu den Gesprächsanfragen seitens der Stadt Göttingen und des Niedersächsischen Innenministeriums
Stellungsnahme von AK Asyl und antirassistisches Aktionsplenum Göttingen zu den Gesprächsanfragen seitens der Stadt Göttingen und des Niedersächsischen Innenministeriums
Göttingen, den 27.11.2014
Ziviler Ungehorsam ist dort notwendig, wo Menschenwürde durch Gesetze getreten wird.
Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Krieg und Vertreibung oder auf der Suche nach einem besseren Leben jenseits von Verelendung und Hunger. Doch die europäischen Staaten bzw. Deutschland investieren Milliarden in die Maßnahmen zur Abschottung ihrer Außengrenzen. Fast alle, bislang legalen, Einreisemöglichkeiten wurden versperrt. Den Menschen bleibt nichts als gefährliche Wege für ihre Flucht zu finden. Seit Jahrzehnten hat das europäische Grenzregime ein Massengrab im Mittelmeer mit weit mehr als 20.000 Flüchtlingen zu verantworten. An den anderen EU-Außengrenzen und weit davor sind in direkter Folge der EU-Politik noch mehr Menschenleben zu beklagen.
Von einem menschenwürdigen Umgang ist kaum die Rede - und wenn doch, dann meist nur in folgenlosen Feiertagsreden. Diskutiert wird lediglich darüber wie man Geflüchtete schneller in ihre Herkunftsländer "zurückschieben" oder weitere "Sicherheitsmaßnahmen" ergreifen kann, um "kriminelle Schleuser-Netzwerke" zu bekämpfen.
In Europa präsentiert man die weltweite soziale Kluft als eine natürliche Gegebenheit, die den unterschiedlichen „Kulturen“ und Systemen entspräche. Dadurch wird die andauernde und Jahrhunderte alte kolonial-rassistische Aufteilung der Welt und die Unterdrückung durch Europa verharmlost und weiter gefestigt. Europa wiederum solle sich um jeden Preis "bis zur letzten Patrone" gegen die gefährlichen Klassen der Zuwander_innen verteidigen, wie es einmal der CSU-Chef Seehofer beim "politischen Aschermittwoch" formulierte.
Auch die wenigen Geflüchteten, denen es gelingt die Grenzen zu überwinden und hierher zu kommen, sind aufgrund der repressiven und rassistischen europäischen und deutschen Flüchtlingspolitik vom gesellschaftlichen Leben weitgehend ausgeschlossen: ohne Anerkennung, ohne Zukunft, ohne Arbeit, in ständiger Ungewissheit und unter der andauernden Drohung einer Abschiebung. Abschiebungen sind alltägliche Praxis. Jedes Jahr werden über 10.000 Menschen in ihre (vermeintlichen) Herkunftsländer abgeschoben oder werden mit einer innereuropäischen Abschiebung zum Spielball des Dublin-Systems.
Diese unmenschliche Abschiebepraxis hat bundesweit zu breit aufgestellten Protesten geführt. In Osnabrück zum Beispiel wurden mehrere Abschiebungen verhindert. Auch in Göttingen haben sich zahlreiche Menschen organisiert und eine Initiative entwickelt, die sich mit Geflüchteten Menschen solidarisiert. So konnten Göttinger Aktivist_innen mit ihrem zivilen Ungehorsam am 10. April diesen Jahres im Neuen Weg erfolgreich eine Abschiebung nach Italien verhindern. Der Preis für ihr politisches Engagement war hoch. Eine halbe BFE-Hundertschaft war zusammen mit Hunden angerückt. Die Abschiebegegner_innen wurden in den frühen Morgenstunden von Hunden gebissen, getreten, mit Knüppeln geschlagen und mit Pfefferspray angegriffen. Zwei Personen waren in der Folge bewusstlos, mehrere verletzt.
Nach dem Widerstand kommt die Repression
Am 09.10.2014 hat eine Reihe von politischen Prozessen gegen jene Abschiebegegner_innen begonnen. Angeklagt werden mehrere Menschen, denen die üblichen Straftaten vorgeworfen werden - Widerstand gegen die Staatsgewalt, Landfriedensbruch, Beleidigung, Körperverletzung, etc. . Die nächsten Gerichtstermine sind am 28.11, 1.12 und 9.12.2014 jeweils um 9 Uhr beim Amtsgericht.
Am 3. November 2014 haben erneut 120 Menschen durch ihre Entschlossenheit und ihren Widerstand die Abschiebung einer somalischen Familie aus der Flüchtlingsunterkunft Maschmühlenweg-Neuer Weg verhindert. Kurz danach sind Aktivist_innen gemeinsam zur Ausländerbehörde gegangen, um das ausstehende und der Familie zustehende Geld, ihre Sozialleistungen, abzuholen. Die Familie hatte nur bis zum Tag der angekündigten Abschiebung Geld bekommen. Da sie Angst hatten, selbst bei den Behörden zu erscheinen, hatten zwei Aktivist_innen eine Vollmacht der Familie bekommen, um diese den zuständigen Behörden zu zeigen und das Geld zu holen.
Einige Tage später bekam der AK Asyl dann Post von der Stadt Göttingen. In dem Brief stand, dass sich wegen der großen Menschenmenge im Erdgeschoß des Rathauses Mitarbeiter_innen der Ausländerbehörde bedroht gefühlt hätten. Und deswegen baten der Ordnungsdezernent und die Sozialdezernentin um ein Gespräch mit uns. Irgendwer von der Stadt Göttingen hat aber inzwischen gegen zwei Personen, die ehrenamtliche politische Arbeit beim AK Asyl leisten, eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch gestellt. Die beiden sind für den 1. Dezember 2014 zur Polizei vorgeladen. Inzwischen haben wir mitbekommen, dass noch weitere Aktivist_innen zur Polizei vorgeladen sind.
AK Asyl Unterstützer_innen sind keine Stellvertreter_innen für die gesamte breit aufgestellte Bewegung, die sich gegen Abschiebungen engagiert, sondern ein Teil davon. Uns wiederum stellt sich die Frage, wer hier wen bedroht? Unsere Intention und politische Praxis ist es nicht, Menschen zu bedrohen. Bewaffneten Polizist_innen versetzen geflüchtete Menschen morgens um 6 Uhr in Angst und Schrecken versetzt. Sie werden in Verfolgung, Hunger, Folter und Perspektivlosigkeit abgeschoben. Das Schicksal der Geflüchteten liegt in in den Händen der Schreibtischtäter_innen. Ob sie hier bleiben können, oder ob sie gezwungen werden, in einem permanenten Duldungsstatus ohne jegliche Perspektive zu (über)leben. Ob sie eine Erwerbstätigkeit ausüben dürfen oder nicht. Ob sie abgeschoben werden oder hier bleiben dürfen. Dieser ständige Kontaktzwang macht die Ausländerbehörden zu den effektivsten Kontroll- und Ausgrenzungsinstanzen gegenüber allen Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte.
Für den 3. Dezember lädt das Innenminsterium unter dem Motto "Kommunikation auf Augenhöhe - für einen respektvollen Umgang" zu einem "Gespräch". Auch der AK Asyl Göttingen hat einen Einladungsschreiben bekommen und wird gebeten, sich zu beteiligen. Themen sollen unter anderem die "...Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und einer gesellschaftskritischen Protestbewegung in Göttingen." sein. Als Beispiele hierfür werden die Abschiebeblockade vom 10. April 2014 mit "...Verletzungen auf Seiten der Polizei und auf Seiten der Protestbewegung" und der vermeintliche Brandanschlag von unbekannten auf das Auto eines BFE-Beamten genannt. Kein Wort über Abschiebungen. Der AK Asyl sieht in der kommenden Veranstaltung des Innenministeriums eine Heuchelei.
Der Schrei nach Menschenwürde lässt sich nicht den Grenzen und Gesetzen unterordnen, die uns vorgeschrieben werden. Ob Abschiebungen angeblich "human" oder mit Hunden und schwer bewaffneter Polizei durchgesetzt werden - sie verletzen immer die Menschenwürde. Daher verstehen wir nicht, mit welchem Ziel dieses „Gespräch“ geführt werden soll? Die Aufstellung und der Einsatz von Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten ist unmittelbarer Ausdruck der Militarisierung des Grenzregimes auch im Innern. Dieses besonders brutale Vorgehen dieser Polizeikräfte soll diejenigen, die gegen menschenunwürdige Praktiken des Staates aufbegehren, abschrecken und einschüchtern. Uns erscheint diese Veranstaltung des Innenministeriums als nichts anderes als ein Spektakel für eine sensibilierte Öffentlichkeit, mit dem versucht wird, die Repressionsorgane, Ausländerbehörden, Polizei und letztlich das Innenministerium selbst als kommunikationswillige "Freunde und Helfer" darzustellen. Wir fragen uns: was genau soll da diskutiert werden? Die europäische Abschottungspolitik von außen und innen ist so brutal, militärisch und oft tödlich, dass sie keinen Platz für einen vorgeblich "humanen Dialog" lässt. Wir setzen uns nicht mit denen an einen Tisch, die unsere Freund_innen und Nachbar_innen verprügeln und abschieben, die soziale Bewegungen kriminalisieren.
Wir solidarisieren uns mit allen Aktivist_innen, die wegen ihren Aktivitäten der Menschlichkeit verurteilt und eingeschüchtert werden sollen.
Wir fordern die sofortige Einstellung der Verfahren!
Wir wollen weder humane noch brutale Abschiebungen, wir wollen ein bedingungsloses Bleiberecht für Alle.
Schließen wollen wir mit den Worten von Bertolt Brecht:
In Erwägung, dass wir der Regierung
Was sie immer auch verspricht, nicht traun
Haben wir beschlossen, unter eigner Führung
Uns nunmehr ein gutes Leben aufzubaun.