Rassismus, „Nationalsozialistischer Untergrund“ und das Nicht-Verhalten der Linken
Im November 2011 erschossen sich mutmaßlich die beiden Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in ihrem Wohnwagen, nachdem sie eine Bank in Eisenach überfallen hatten. Beate Zschäpe setzte fast zeitgleich die gemeinsame Wohnung in Zwickau in Brand und stellte sich vier Tage später der Polizei. Dieses Ereignis bildete den Auftakt für die Aufdeckung des NSU-Netzwerkes und dessen Verstrickungen mit Verfolgungsbehörden und Geheimdiensten in der BRD. Die Behörden stehen seither zunehmend in der öffentlichen Kritik immer wieder tauchen neue Enthüllungen auf, die den institutionellen Rassismus, die Ignoranz und die Unterstützung des NSU-Netzwerkes von Seiten des Verfassungsschutzes und anderer Behörden weiter belegen.
Die Neonazis des NSU haben ihre politischen Wurzeln in den Pogromen zu Beginn der 90er Jahre. Ihre Radikalisierung fand im Zusammenhang mit einem allgemeinen rassistischen Klima in der Bundesrepublik und im nationalistischen Taumel der Wende statt. So fühlten sich Nazis als legitimer Ausdruck des „Volkswillens“. Mitte der 90er Jahre gründete sich der Thüringer Heimatschutz, dem auch Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos angehörten. Ein Jahr vor dem ersten Mord des NSU beteiligte sich die Bundesrepublik 1999 am ersten Angriffskrieg seit der Niederschlagung des Nationalsozialismus durch die Alliierten. Die BRD wurde im Zuge des Aufstands der Anständigen im Oktober 2000 zum Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung verklärt, nur einen Monat nachdem Enver Şimşek am 9. September vom NSU ermordet wurde. Mehr als zehn Jahre lang konnten Neonazis ungehindert morden, die Taten nannte man rassistisch nur „Dönermorde“. Die Aufdeckung des NSU fällt in einen Zeitraum, der von den Eruptionen der kapitalistischen Krise geprägt ist. Diese geht mit einem Erstarken rassistischer und kulturalisierender Ressentiments einher: In der ganzen Bundesrepublik führen Bürgerinitiativen Aktionen und Proteste gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in Asylunterkünften durch. In Schneeberg schaffte die NPD es sogar, Demonstrationen mit bis zu 2000 Teilnehmer*innen zu organisieren.
Vassilis Tsianos wird der Frage nachgehen, wie sich der Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1990er Jahren gewandelt hat und wie die NSU-Morde und der institutionelle Rassismus darin einzuordnen sind. Er lehrt in Hamburg Migrationssoziologie und Border Studies und ist Mitglied des Netzwerkes Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung. 1998 hat er das antirassistische Projekt“Kanak Attak“ mitbegründet.
Die Neonazis des NSU-Netzwerkes konnten jahrelang ungehindert morden. Nach dem Mord an Halit Yozgat am 6. Mai 2006 fand in Kassel eine Demonstration mit bis zu 2000 Teilnehmer*innen statt. Das Motto der Demonstration lautete „Kein zehntes Opfer“. Für viele Teilnehmer*innen dieser Demonstration war klar, dass die Morde einen rassistischen Hintergrund hatten. Doch kaum eine*r schenkte diesen Deutungen Gehör, nicht einmal die radikale Linke, die für sich Solidarität mit von Rassismus Betroffenen beansprucht. Insgesamt haben sich sowohl Zivilgesellschaft als auch Linke durch Nicht-Verhalten und Ignoranz gegenüber den Morden hervor getan. Woran liegt es, dass eine Linke, die normalerweise äußerst sensibel auf Nazi-Aktivitäten reagiert, im Zusammenhang mit einer solchen Mordserie kaum etwas verlautbaren lässt?
Das Bündnis „Rassismus Tötet!“ wird das Nicht-Verhalten der radikalen Linken im Zusammenhang mit den NSU-Morden beleuchten und auf die aktuellen rassistischen Entwicklungen und die Politik der radikalen Linken in der Bundesrepublik eingehen. Am 12. November 2013 haben die Aktivist*innen ein Papier veröffentlicht, in dem sie ein Versagen der radikalen Linken in den 90er Jahren und eine heutige Schockstarre konstatieren.