22.11.07 // Hildesheim – Morgens um acht steht Polizei vor der Tür - Abschiebung verhindert
(rek) In drei Koffer hat die Familie das Allernötigste gepackt. Am
Vorabend erfuhr sie, dass sie abgeschoben werden soll. Zurück in die
entlegene Kaukasusrepublik Inguschetien. Eine spontane Demo vor dem
Flüchtlingswohnheim in der Nordstadt lässt die Polizei dann morgens
wieder abfahren – ohne Eltern und ihre drei Kinder.
„Wir lassen ihn nicht gehen, er gehört doch zu uns“, ruft
Klassensprecher Mahmud Hammoude immer wieder. Er und die gesamte Klasse
8a von der Realschule Himmelsthür stehen aufgebracht vor dem
Flüchtlingswohnheim in der Senkingstraße.
Hildesheimer Allgemeine Zeitung am 23.11.2007
Als sie gestern hörten, dass ihr Kumpel Amir Ismailov gerade abgeschoben
werden soll, ließen die 14-Jährigen alles stehen und liegen. Zusammen
mit ihren Lehrerinnen Beatrix Häusler und Hella Gutschke machten sie
sich sofort auf den Weg in die Nordstadt. „Das hier ist wichtiger als
Unterricht“, sind sich auch die Lehrerinnen einig.
Vor dem Wohnheim hatten sich bereits Bastian Wrede vom Niedersächsischen
Flüchtlingsrat, Andreas Vasterling von der Initiative „Menschen für
Menschen“ sowie viele Sympathisanten eingefunden. Mit Plakaten und
Handzetteln verurteilen sie die gängige Abschiebepraxis. Gestern mit
Erfolg. „Wir wollen die Familie ja nicht mit Gewalt da herausholen“,
erläutert Polizeisprecher Claus Kubik. Deeskalation sei der Grund für
den überraschenden Rückzug der Beamten, die mit fünf Fahrzeugen
angerückt waren.
„Einfach im Stich lassen? Nein, wir sind doch eine Familie“, ruft
Mitschüler Mehdi Arab und erntet johlende Unterstützung – auch als die
Polizei längst weg ist. Etwas verlegen-dankbar guckt Amir aus dem
zweiten Stock des Flüchtlingswohnheims hinunter auf seine versammelten
Freunde. Der 14-Jährige weiß nicht mehr so recht, wohin er gehört.
Eigentlich sollte seine Familie längst in Frankfurt sein, um von dort
mit dem im Flugzeug ins entfernte Inguschetien auszureisen. Ein Land, an
das er kaum Erinnerungen hat.
Seit mehr als sechs Jahren leben die Ismailovs in Hildesheim. Vater
Bagaudin (45 Jahre) arbeitet als Tischler, kann seine Familie ohne
staatliche Unterstützung ernähren. „Hier ist mein Zuhause, meine
Freunde“, sagt sein Sohn, der zu den Besten in der Klasse zählt. Das
Gefühl, plötzlich alles verlassen zu müssen, kennt Amir schon seit drei
Jahren. Doch als der gefürchtete Brief dann doch kam und amtlich die
Abschiebung am nächsten Morgen ankündigte, waren alle wie am Boden
zerstört. „Wir können nicht zurück“, sagt der Vater beschwörend. In
seiner Heimat herrsche Krieg. „Viele unserer Freunde und Verwandten sind
tot.“
Die kleine russische Republik Inguschetien grenzt an die umkämpfte
Region Tschetschenien und gilt inzwischen selbst als Brennpunkt im
Nordkaukasus. Ein Menschenleben zähle dort nicht viel, Entführungen
seien ebenso an der Tagesordnung wie Bombenexplosionen, übersetzt der
Sohn die Sätze des Vaters. Die Internationale Gesellschaft für
Menschenrechte (IGFM) prangerte erst vor wenigen Wochen das brutale
Vorgehen russischer Polizeitruppen und tschetschenischer Rebellen gerade
auch gegen die Zivilbevölkerung an.
Die Familie Ismailov, die in dem Wohnheim zu fünft ein 40 Quadratmeter
großes Zimmer bewohnt, hat die ganze Nacht nicht geschlafen. „Wir wissen
nicht, wohin wir noch können“, sagt Mutter Hadi (40 Jahre). Die Koffer
sind gepackt, in Kisten alle anderen Habseligkeiten verstaut, die nicht
sofort mitgenommen werden können. Die jüngste Tochter Diana, die in
Hildesheim geboren wurde, hat ihre Spielsachen aussortieren müssen. Zwei
Kuscheltiere dürfen mit – mehr Platz ist in den Koffern nicht. Der voll
gestellte, trostlose Raum wirkt schon jetzt wie verlassen.
„Ja, dass meine Freunde alle gekommen sind, das tut gut“, sagt der
14-jährige Amir im perfekten Deutsch. Er möchte gerne mal Dolmetscher
werden. Ob er jemals wieder ganz normal und alltäglich mit seinen
Freunden in die Realschule Himmelsthür gehen kann? Alles ist ungewiss.
Sein Gesicht verfinstert sich. Aber: „Ein Mann weint nicht.“
Stoppt Stadt aus Kulanz?
Hildesheim
(rek). Muss die Familie jetzt täglich mit einer erneuten Abschiebung
rechnen? Nein, so heißt es in einer Presseerklärung der Stadt. Ja,
befürchtet der Niedersächsische Flüchtlingsrat. Als Grund nennt die
Stadt einen Asyl-Folgeantrag, der gestern beim Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge (BAMF) gestellt wurde. Daher ist die „Abschiebung aus
Kulanzgründen gestoppt“ worden, lautet die Begründung. Bis zu einer
„Vorentscheidung des BAMF über den Antrag wird eine Abschiebung nicht
stattfinden“. Jedoch: Die Entscheidung kann innerhalb weniger Tage fallen.
Der Asylantrag der Familie Ismailov ist bereits im Jahr 2003 abgelehnt
worden. Seit dieser Entscheidung seien „alle Familienangehörigen zur
Ausreise aus dem Bundesgebiet verpflichtet“. Dass das bisher nicht
geschehen ist, sei nach Auskunft der Stadt rechtswidrig. „Die zwingend
erforderliche Abschiebung konnte aus Gründen, die die Familie selbst zu
vertreten hat, bisher nicht durchgeführt werden.“ Gemeint ist, dass die
Familie die Behörde nicht wahrheitsgemäß über den Verbleib ihrer Pässe
informiert haben soll. Inzwischen haben alle Fünf Ersatzpapiere. Der
jüngste Asyl-Folgeantrag war unter anderem mit dem Gesundheitszustand
der 13-jährigen Tochter Madina begründet worden. Sie ist wegen einer
Hirnhautentzündung als Säugling gehörlos und lernbehindert. Sie besucht
die Taubblindenschule in Hannover. Nach fachlicher Einschätzung würde
eine Abschiebung ihren Zustand irreparabel verschlechtern. „Eine
unmenschliche Maßnahme“, hat der Hildesheimer Rechtsanwalt Dirk Sauder
noch am Mittwoch ans Bundesamt für Migration geschrieben. Antwort der
Stadt gestern: „Die Behinderungen haben schon vor der Einreise nach
Deutschland bestanden.“ Kai Weber von Niedersächsischen Flüchtlingsrat
ist entsetzt. Er befürchtet, dass die Stadt die Abschiebung der schwer
kranken Tochter und ihrer Familie sehr wohl hinter den Kulissen
forciert. „Diese kleinkarierte Auslegung des Bleiberechts ist beschämend
und menschenverachtend.“ Kein verantwortungsvoller Familienvater würde
seine Frau und Kinder nach Inguschetien bringen. „Dort ist der Teufel los!“