*Drei Tage im August . . . und viele Jahre mehr* Aufruf zur Vormittags-Kundgebung am 4. Juni in Lichtenhagen
*Drei Tage im August . . . und viele Jahre mehr*
Beginn 10 Uhr vor dem Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen / S-Bahn-Halte Lichtenhagen
August 1992, Rostock-Lichtenhagen: Neonazis greifen unter dem Beifall
Tausender die Zentrale Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge (ZAst) sowie
ein Wohnheim vietnamesischer ArbeiterInnen mit Steinen und
Molotowcocktails an. Das Pogrom dauert mehrere Tage. Die Polizei gewährt
den BewohnerInnen keinen Schutz. Kurz danach gibt die SPD ihren
Widerstand gegen die Änderung des Artikel 16 des Grundgesetzes auf.
"/Die Vorfälle der vergangenen Tage machen deutlich, dass eine Ergänzung
des Asylrechtes dringend erforderlich ist, weil die Bevölkerung durch
den ungebremsten Zustrom von Asylanten überfordert wird/", sagte der
damalige Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Bernd Seite (CDU)
auf einer Pressekonferenz wenige Stunden nach dem die Angriffe ihren
Höhepunkt erreicht hatten. Die Opfer wurden damit zu den Schuldigen
gemacht. Doch was ging dieser unglaublichen Äußerung voraus, was sollte
mir ihr bezweckt werden?
Die Zentrale Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in
Mecklenburg-Vorpommern war im Frühjahr 1992 hoffnungslos überfüllt.
Neuankommende Flüchtlinge wurden tagelang dazu gezwungen, vor der ZAst
zu campieren, um einen Asylantrag stellen. Sogar der Vorschlag,
wenigstens mobile Toiletten aufzustellen wurde abgelehnt, denn "das
hätte bedeutet, das wir einen Zustand legalisieren, den wir nicht haben
wollen", so Rostocks damaliger Oberbürgermeister Klaus Kilimann (SPD).
Am Dienstag, dem 18. August, meldete sich in der Redaktion der
Norddeutschen Nachrichten ein anonymer Anrufer und drohte: "/Wenn die
Stadt nicht bis Ende der Woche in Lichtenhagen für Ordnung sorgt, dann
machen wir das. Und zwar auf unsere Weise/". Ähnlich Ankündigungen
gingen auch bei anderen Zeitungen ein und wurden auch veröffentlicht.
Trotz dieser eindeutigen Drohungen konnten die zuständigen Politiker und
Polizisten angeblich keinerlei Gefährdung erkennen. Es seien ja
schließlich keine Demonstrationen für das Wochenende angemeldet worden.
*Samstag, 22. August*
Vor der ZAst sammelten sich 2.000 Menschen. Am frühen Abend wurden aus
der Menge heraus Steine und Molotowcocktails gegen das Gebäude
geschmissen. Lächerliche 30 Schutzpolizisten der insgesamt über 1.100
Rostocker Polizisten sollten dem Treiben Einhalt gebieten. Aufgrund des
zahlenmäßigen Ungleichgewichtes konnten sie die BewohnerInnen der ZAst
nicht mal ansatzweise schützen, da sie genug damit zu tun hatten, sich
um ihre eigene Sicherheit zu kümmern. Die seltsamerweise erst kurz zuvor
von Rostock nach Schwerin verlegten Wasserwerfer trafen erst gegen zwei
Uhr nachts in Lichtenhagen ein. Sie versprühten ihr Wasser planlos und
wurden daraufhin wieder nach Schwerin abgezogen. Dieser "Sieg" über die
Wasserwerfer heizte die Stimmung weiter an. Erst am frühen Morgen
beruhigte sich die Lage.
*Sonntag, 23. August*
Die Menge versammelte sich erneut, unterstützt durch bundesweit bekannte
Nazis wie Christian Worch. Erneut wurde die ZAst sowie das direkt daran
angrenzende Wohnheim vietnamesischer ArbeiterInnen attackiert. Eine
Antifa-Demonstration wurde von der Polizei aufgelöst.
*Montag, 24. August*
Die BewohnerInnen der ZAst wurden unter Polizeischutz evakuiert. Die
vietnamesischen ArbeiterInnen wurden jedoch weiterhin ihrem Schicksal
überlassen. Am Abend spitzte sich die Lage dramatisch zu, die Angreifer
drangen in das Haus ein. Die unteren Etagen wurden in Brand gesetzt. In
dem Haus befanden sich noch über 120 Menschen. Es gelang ihnen, die
verschlossenen Fluchttüren zum Nachbarhaus aufzubrechen, so dass es zu
keinen Toten kam.
Fakt ist, dass trotz eindeutiger Hinweise zu keinem Zeitpunkt
ausreichend Polizeikräfte vor Ort waren, um den Schutz der Bewohner der
ZAst bzw. des Wohnheim zu garantieren. Handelte es sich hierbei nur um
eine Polizeipanne? Es gibt eindeutige Hinweise darauf, dass dem nicht so
war.
Obwohl seit geraumer Zeit die Situation vor bzw. in der ZAst bekannt
war, wurde zu keinem Zeitpunkt der Versuch unternommen, die Verhältnisse
zu verbessern. Der geplante Umzug der ZAst in ein größeres Gebäude wurde
wieder und wieder verschoben.
Der Polizeieinsatz wurde vom Chef der Rostocker Schutzpolizei, Jürgen
Deckert, geleitet. Dieser hatte keinerlei Erfahrung mit solchen
Einsätzen. Sein Vorgesetzter, Siegfried Kordus, sowie der
Landespolizeichef Hans-Heinrich Heinsen, polizeiintern bekannt als der
"Sieger von Brokdorf", übernahmen weder die Einsatzleitung noch
unterstützten sie Deckert. Die Vermutung liegt nahe, dass Deckert ein
Bauernopfer war. Deckert selbst sagte damals gegenüber dem Chef einer
Hamburger Hundertschaft: "/Ich glaube, ich werde politisch allein
gelassen/".
Am Montagnachmittag fand in der Rostocker Polizeidirektion eine Sitzung
mit Bundesinnenminister Seiters (CDU), BGS-Inspekteur Hitz,
Ministerpräsident Seite (CDU), Landesinnenminister Kupfer (CDU), dem
Schweriner Abteilungsleiter "Öffentliche Sicherheit" von Breven und dem
Rostocker Polizeidirektor Kordus statt. Inhalt und Ergebnis dieses
Gesprächs sind nicht bekannt geworden.
Obwohl die Gefährdung der Vietnamesen bekannt war, wurden sie nicht
gemeinsam mit den BewohnerInnen der ZAst evakuiert.
Die letzten Angreifer wurden erst zehr Jahre später zu geringen
Haftstrafen verurteilt, die größtenteils zur Bewährung ausgesetzt wurden.
Die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen waren Teil eines strategischen
Konzepts der Unionsparteien. Ziel war, das im Grundgesetz ohne
Einschränkung garantierte Asylrecht abzuschaffen. Eine
Grundgesetzänderung, die eine Zweidrittel-Mehrheit erforderte, stand bis
zu diesem Zeitpunkt nicht in Aussicht, da SPD und Grüne diese ablehnten.
Auch die Stimmung in der Bevölkerung war durchaus geteilt. Das Ziel der
Unionsparteien bestand darin, ein Klima zu schaffen, in welchem sowohl
die Stimmung in der Bevölkerung kippen und auch SPD und Grüne massiv
unter Druck geraten sollte.
Das Manöver zeigte durchschlagenden Erfolg. Die SPD, in der Sorge, sie
könnte den Anschluss an die Stimmung der Bevölkerung verlieren, knickte
ein und stimmte der Verfassungsänderung zu. Am 1. Juli 1993 trat der
neue Artikel 16a GG in Kraft. Die darin verankerten Einschränkungen des
Asylrechts wurden in den folgenden Jahren von den anderen europäischen
Ländern übernommen und wurden zum Grundstein für die Abschottung Europas.
Das Einmalige an Rostock-Lichtenhagen waren nicht die gewalttätigen
Übergriffe auf AusländerInnen. Diese hatte es davor und danach gegeben.
Einmalig war die offene Solidarisierung der Bevölkerung sowie die
Instrumentalisierung der Pogrome durch die Politik. Mit unserer
Kundgebung wollen wir nicht nur an die Ereignisse von
Rostock-Lichtenhagen erinnern, sondern auch allen Opfern rassistischer
Gewalt und staatlicher Abschottungspolitik gedenken.