6.12.06 // jw: Ohrfeige für Kartell der Abschieber
Tageszeitung junge Welt
06.12.2006 / Inland / Seite 4
Ohrfeige für Kartell der Abschieber
Nach Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover könnte in Türkei abgeschobene
Kurdin wieder einreisen. Landkreis kann in Berufung gehen
Reimar Paul
Einer der umstrittensten Abschiebefälle in Niedersachsen könnte eine neue
Wendung nehmen: Die vor fast zwei Jahren vom Landkreis Hildesheim in
Niedersachsen in die Türkei abgeschobene Gazale Salame könnte mit ihren zwei
kleinen Kindern nach einem Gerichtsbeschluß zumindest vorübergehend wieder
nach Deutschland einreisen. Das Verwaltungsgericht (VG) Hannover
verpflichtete den Landkreis in einer jetzt bekanntgemachten Entscheidung,
Salame eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (Az. 1 B 6235/06).
Diese soll so lange gelten, wie das Gerichtsverfahren über ein
Aufenthaltsrecht von Salames Ehemann Ahmed Siala läuft.
In seinem Beschluß macht das Gericht klar, daß eine weitere Trennung der
Familie Salame/Siala nicht hinzunehmen sei. Sie sei insbesondere dem am 31.
August 2005 in der Türkei geborenen Sohn nicht zuzumuten, der seinen Vater
noch nie gesehen habe. Erst vor wenigen Tagen hatte sich das niedersächsische
Innenministerium in einer Stellungnahme erneut gegen eine Wiedereinreise
Salames und ihrer Kinder ausgesprochen. Der Landkreis hatte sich diesem Votum
angeschlossen. Die Behörde kann vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg gegen
den VG-Beschluß Berufung einlegen.
Salame und Siala, Angehörige der arabisch sprechenden Mahalmi, kamen 1985 und
1988 aus dem damals vom Bürgerkrieg erschütterten Libanon in die
Bundesrepublik. Die Kinder wurden in Hildesheim geboren, die Familie erhielt
1990 ein vorläufiges Bleiberecht. Zehn Jahre später befanden die Behörden,
Gazale Salame sei gar keine Staatenlose, wie sie bei ihrer Einreise angegeben
habe, sondern, obwohl nachweislich im Libanon aufgewachsen, türkische
Staatsbürgerin. Der Kreis Hildesheim hatte deshalb im Februar 2005 die damals
schwangere Mutter sowie ihre jüngste Tochter abgeschoben, während ihr Mann
die beiden älteren Töchter in den Kindergarten brachte. Die vom Landkreis
ebenfalls verfügte Abschiebung Sialas war vom Verwaltungsgericht Hannover
später für unrechtmäßig erklärt worden.
Nach Angaben ihrer Anwältin lebt Gazale Salame mit den beiden Kleinkindern in
der Türkei ohne Sprachkenntnisse und ohne Kontakte in einem Elendsviertel in
Izmir. Ihr fehle das Nötigste zum Leben, als Frau ohne männlichen Schutz
werde sie ständig belästigt. »Sie ist sehr verzweifelt und kann keine Nacht
schlafen«, erklärte die Ärztin Gisela Penteker vom Niedersächsischen
Flüchtlingsrat nach einem Besuch in Izmir. Gazale Salame habe in der Türkei
keine Verwandten und bekomme auch keine finanzielle Hilfe: »Miete, Strom,
Wasser, Windeln, alles zahlt sie mit dem Geld, das sie von ihrem Mann und
einer Unterstützerin aus Deutschland bekommt.«
Der Gesundheitszustand Salames ist nach Angaben des Flüchtlingsrates und von
Ärzten besorgniserregend. Ein Psychiater diagnostizierte bei ihr Depressionen
und eine Angststörung. Sie sei stark suizidgefährdet. Das NDR-Fernsehen hatte
kürzlich in einer Reportage aus Izmir über die ärmlichen und beengten
Lebensverhältnis der Frau und der Kinder berichtet.