16.10. junge welt // Zuckerbrot und Peitsche

Aufstand im niedersächsischen Flüchtlingslager Blankenburg: Rund 250 Bewohner wehren sich gegen Erniedrigung und mieses Essen. Blankenburg ist kein Einzelfall. Mit der No-Lager-Tour, hier im brandenburgischen Bahnsdorf, machen Flüchtlinge und Antirassisten auf die Zustände in Lagern aufmerksam. Foto: Version Von Andreas Grünwald In Niedersachsens Provinz werden Flüchtlinge schikaniert. Seit knapp zwei Wochen befinden sich die rund 250 ständigen Bewohner des sieben Kilometer vor Oldenburg gelegenen Flüchtlingslagers Blankenburg in einem unbefristeten Streik. Es sind Menschen aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern, die das Kantinenessen verweigern und lagerinterne Ein-Euro-Jobs boykottieren. Statt des schlechten Essens fordern sie eigenes Geld, eine bessere Gesundheitsversorgung und die Unterbringung in normalen Wohnungen. Doch auch die Forderung nach dem Ende aller Abschiebungen und nach einem gesichertes Leben in Deutschland steht nun mit im Vordergrund der zahlreichen Demonstrationen, die Oldenburg zur Zeit erlebt. Entzündet hatte sich der Streik aber am Essen, das so mies ist, daß bei etlichen Flüchtlingen Mangelerscheinungen und Krankheiten auftraten. Am 4. Oktober war das Maß voll: Der suppenähnliche Fraß landete nicht im Magen, sondern auf dem Fußboden. 200 Menschen zogen anschließend durch das Lager und verlangten, mit dessen Leiter Christian Lüttgau zu diskutieren. Doch der holte die Polizei, die mit 20 Einsatzwagen und Hunden anrückte. Mit Pfefferspray und mehreren Festnahmen wurde der Protest aufgelöst. Nun aber ging die Revolte erst richtig los. Schon am nächsten Tag demonstrierten die Lagerinsassen erneut und erweiterten ihre Forderungen. Sie verlangten zusätzlich eine bessere Gesundheitsversorgung und die Ablösung der Lagerärztin, die alle Krankheiten angeblich nur mit ein und demselben Schmerzmittel behandelt. Tägliche Schikanen Die Lebensbedingungen in dem ehemaligen Dominikanerkloster sind so schlecht, daß Flüchtlingsorganisationen seit Jahren dessen Schließung fordern. Hinzu kommen die täglichen Schikanen des Lagerpersonals, das öffentlich durch rassistische Sprüche auffiel. Etliche Flüchtlinge zogen die Flucht vor – was Lüttgau aber wohl ganz recht ist, weil auf diese Weise die Unterhaltskosten des Lagers gesenkt werden. Flüchtige aber werden über kurz oder lang geschnappt und dann noch schneller abgeschoben. Wer bleibt, erhält monatlich 38 Euro Taschengeld. Doch nur dann, wenn er sich an der Beschaffung der für seine Abschiebung nötigen Papiere beteiligt. Solche »guten« Flüchtlinge können sich bei den lagerinternen Ein-Euro-Jobs durch Putz- und Reinigungsarbeiten etwas hinzuverdienen. Doch seit dem 4. Oktober muß das Lagerpersonal selbst an die Arbeit – bei den Flüchtlingen läuft nichts mehr. Diese Entschlossenheit beeindruckt immer mehr Oldenburger, die mit Lebensmittel- oder auch Geldspenden die Flüchtlinge unterstützen. Eine Erwerbslosengruppe sammelte zum Beispiel 300 Euro. Händler des Wochenmarktes lieferten Gemüse. Kirchliche Gruppen sammelten Geld für Getränke. Auch einzelne Bürger gehen vermehrt auf die Flüchtlinge zu. Dazu trägt auch die Kommunalpresse bei, die das Thema nun aufgegriffen hat. Nur die Nordwest-Zeitung verläßt inzwischen jedes Gebot der Fairneß. Sie präsentiert nun aufgetischte Festessen der Lagerleitung als Normalität. Doch das überzeugt nur wenige, weshalb selbst der Stadtrat über die Flüchtlingsproblematik sprechen will. Koordiniert wird alles durch das Antirassistische Plenum in Oldenburg, das schon vor Beginn des Streiks mit »Lagertagen« die Flüchtlinge informierte und zu den Flüchtlingsdemonstrationen mit aufrief. Streikbruch wird belohnt Die Lagerleitung reagiert scharf auf die Proteste. Die Flüchtlinge müssen nun regelmäßig ihre Lagerpässe vorlegen, in denen sie für jeden Kantinenbesuch einen Stempel erhalten. Boykotteure lassen sich so leichter identifizieren. Wer überhaupt keine Stempel gesammelt hat, riskiert seine Verlegung in andere Lager. Auch Polizeimitarbeiter traten an einzelne Flüchtlinge heran und versprachen Hilfe bei der Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung – allerdings nur, wenn sie die Führer des Streiks verraten. Anderen entzog Lüttgau die Besuchserlaubnis oder das Taschengeld. Wer den Streik verrät, hat Vorteile: Er bekommt Urlaub und kann Freunde und Verwandte bis zu vier Wochen lang in ganz Deutschland besuchen. Diese Strategie von Zuckerbrot und Peitsche will Lüttgau offenbar fortsetzen, denn er handelt im Auftrag von Innenminister Uwe Schünemann (CDU), der Flüchtlinge zur »freiwilligen Ausreise« bewegen möchte. Freiwillig reist aber nur aus, wer diese Lagermentalität nicht mehr aushalten kann. Ungenießbares Kantinenessen, überbelegte Wohnräume und systematische Beleidigungen durch das Lagerpersonal sind deshalb in Niedersachsen politisches Programm. Nur Solidarität kann den mutigen Flüchtlingen jetzt noch helfen. 16.10.2006 / Schwerpunkt / Seite 3 http://www.jungewelt.de/2006/10-16/051.php

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