Prozess in Hamburg im Oktober und November: „Chaos-Randale am Flughafen“
... betitelte die Bildzeitung ihren Artikel über die Abschlußdemo des letztjährigen Antira-Camps in Hamburg und war damit mal wieder so weit von der Realität entfernt wie nah am Polizeibericht. Da von Randale keine Spur war, muss den zahlreich anwesenden Bullen wohl reichlich langweilig geworden sein. Ein Mitglied der Einsatzleitung entschloß sich jedenfalls, eine Person aufgrund eines am „Befehlskraftwagen“ angebrachten Aufklebers wegen Sachbeschädigung (!) festzunehmen.
Weil der Festnahmeversuch für den Polizisten dort endete, wo sonst in der Regel nur Demonstrant_innen landen, nämlich auf dem Boden, hat das Ganze nun ein juristisches Nachspiel. Über die durchaus spannenden Fragen, was der Polizist in der Demo überhaupt zu suchen hatte und wie er darüber hinaus noch auf die Idee kommen konnte, jemanden wegen eines Aufklebers tätlich anzugreifen, wird leider wohl nicht verhandelt werden. Stattdessen sind fünf Antirassisten - darunter drei Göttinger Aktivisten - wegen gefährlicher Körperverletzung und Widerstand angeklagt, da sie den Beamten gemeinschaftlich verprügelt haben sollen. Die Verhandlung verspricht auch deshalb interessant zu werden, weil einer der Hauptbelastungszeugen, der Leiter der Hamburger Bereitschaftspolizei, Hartmut Dudde, Prügeln sonst keineswegs ablehnend gegenüber steht. Im Gegenteil: „Heute fangen wir mal an. Haut mal schön rein", soll Dudde seine Untergebenen der taz zufolge beim Schanzenfest im Juli 2009 aufgefordert haben. Dementsprechend ist er in Hamburg kein Unbekannter und selbst die taz kommt zu der Einschätzung: „Polizeiführer wie [...] Hartmut Dudde sind Überzeugungstäter. Sie wissen genau, was sie nicht dürfen - und sie tun es dennoch.“
Mit solch unsympathischen Gestalten wollen die Angeklagten nicht alleine gelassen werden, sondern freuen sich stattdessen auf viele Freund_innen und Genoss_innen, die sie auch vor Gericht unterstützen.
Deshalb: Kommt zum Prozess!
Als Prozesstermine sind angesetzt: Di., 20. Oktober 2009; Di., 27. Oktober; Di., 3. November und Di. 10. November, jeweils um 9:15 Uhr in Raum 267, Sievekingplatz 3, Strafjustizgebäude, 20355 Hamburg.
**update 30.10.2009 // 18.11.2009**
Nach zwei Prozesstagen hat der Richter im Hamburger Prozess gegen fünf Antirassisten zusätzlich zu den bisher geplanten Terminen vier weitere angesetzt: Di., 3. November (10:00 Uhr); Di., 10. November; Di., 24. November; Di., 8. Dezember; Di., 15. Dezember und Do., 17. Dezember jeweils um 8 Uhr im Plenarsaal (Raum 300), Sievekingplatz 3, Strafjustizgebäude, 20355 Hamburg.
Zu den ersten zwei Prozesstagen gibt es inzwischen verschiedene Presseberichte:
Weitere Presseberichte:
**update 25.11.2009**
Im Prozess wegen eines angeblichen Angriffs auf einen Polizisten während der Abschlußdemo des letztjährigen Antira-Camps in Hamburg sind heute vier der Angeklagten freigesprochen worden. Das Verfahren gegen den fünften Angeklagten wurde allerdings zuvor abgetrennt und wird weitergeführt. Der Richter erklärte, er gehe vorläufig davon aus, dass dieser auf einem Video identifizierbar und dort eine Trittbewegung erkennbar sei. Solidarität und die Teilnahme am Prozess ist daher weiterhin dringend notwendig. Das Verfahren wird am 8. Dezember fortgeführt, beginnt nun jedoch wieder um 9:15 Uhr (Raum 300, Sievekingplatz 3, Strafjustizgebäude, 20355 Hamburg).
Vor der Urteilsverkündung gaben die vier später freigesprochenen Angeklagten eine gemeinsame Prozesserklärung ab. Die Erklärung wurde von den anwesenden Prozessbeobachter_innen, deren wertvolle Unterstützung auch einer der Anwälte in seinem Plädoyer hervorhob, mit Applaus aufgenommen:
Gemeinsame Erklärung aller Angeklagten:
Im heute endlich zum Abschluß kommenden Prozess ging es vordergründig um "Gewalt". Doch Gewalt war nur an der Oberfläche das Thema der hiesigen Verhandlung. Gewalt an sich hat keine Festnahmen zur Folge, keine Gerichtsverfahren, keine hysterische Presseberichterstattung und erst recht keine Empörung bei der Polizeigewerkschaft.
Auch der Polizist, der am 22.8. letzten Jahres am Hamburger Flughafen zu Boden ging, war - wie er hier selbst dargelegt hat - unterwegs in durchaus gewalttätiger Absicht. Er wollte jemanden festnehmen wegen eines Aufklebers - einer Sachbeschädigung, wie er zu Protokoll gab. Wegen eines kleinen, mit Klebstoff beschichteten Stücks Papier wollte er eine Person Kraft seines Amtes tätlich angreifen und gegen ihren Willen gewaltsam aus der Demo zerren. Das hat er selbst hier so vorgetragen. Wer käme auf die Idee, ihn dafür anzuzeigen, ihn aufzufordern sich nackt auszuziehen, ihn in eine Zelle zu sperren oder vor Gericht zu bringen? Gewalt auf Demonstrationen ist nichts ungewöhnliches. Wer je auf linken Demos war, weiß, dass sie dort nicht die Ausnahme sondern die Regel ist. In den Medien thematisiert oder gar vor Gericht verhandelt wird sie jedoch bloß in seltenen Fällen. Während jede brennende Mülltonne lange Presseartikel nach sich zieht, bleiben die Prügelorgien der Sicherheitskräfte oft gänzlich unbeachtet. Knüppel und Pfefferspray, die im Besitz von Demonstrantinnen und Demonstranten als gefährliche Waffen angesehen werden, scheinen in der Hand von Polizistinnen und Polizisten zu Massagegerät und Duftzerstäuber zu mutieren. Zurückzuhalten brauchen sich die Einsatzkräfte dabei keineswegs. Denn selbst wenn sie ihre weitgesteckten Kompetenzen überschreiten, müssen sie nicht mit rechtlichen Konsquenzen rechnen. Eine Anzeige wegen Körperverletzung im Amt kann man sich jedenfalls sparen, denn die Chance einer Verurteilung liegt seit Jahren konstant im Promillebereich.
Sich hierüber zu wundern wäre wie, erstaunt darüber zu sein, dass man im Regen nass wird. Die Polizei hat eine besondere Funktion, die im Organ zur politischen Verfolgung, dem Staatsschutz, plakativ zum Ausdruck kommt. Sie soll im Auftrag des Staates eben diesen (notfalls mit Gewalt) schützen. Das eigene System führte sich ad absurdum, wenn es die Glaubwürdigkeit eben jener Funktionsträgerinnen und -träger in Frage stellen würde. Deshalb kommt es so oft zu Verurteilungen aufgrund von abgesprochenen Polizeiaussagen - seien es offensichtliche oder versteckte Falschaussagen. Deshalb kommt es dazu, dass Richterinnen und Richter selbstbewusst gerne auch mal die Politik in die eigene Hand nehmen und versuchen über Urteile das politische Klima in ihrem Sinne zu verschärfen. Die Justiz stellt dabei jedoch erst die Verfolgung und Urteilsbildung in dritter Instanz dar. Die ihr zugrundeliegenden Triebfedern stellen die Verfolgungsorgane in erster und zweiter Instanz dar: Die Polizei und Staatsanwaltschaft.
Diese kooperieren mit der Justiz, um gegen emanzipatorische und soziale Bewegungen vorzugehen, da diese immer auch eine Bedrohung der herrschenden Verhältnisse implizieren. Dabei werden zwei besondere Zwecke verfolgt. Einerseits sollen über die Kriminalisierung emanzipatorischer Öffentlichkeit die inhaltlichen Positionen delegitimiert werden und andererseits sollen Aktivistinnen und Aktivisten eingeschüchtert, eingesperrt oder handlungsunfähig gemacht werden. Die Menschen, die als Angeklagte vor Gericht stehen, sehen sich mit einer übermächtigen Struktur konfrontiert, gegen die sie nichts in der Hand haben. Wie eine Walze rollt der Appart über ihr Leben, hinterlässt psychische und nicht selten auch physische Narben, sorgt für materielle Einschnitte mit langfristigen Folgen, reißt sie aus ihrem Alltag, um während des Prozesses vollkommen isoliert von ihrem sozialen Kontext an ihnen ein Exempel zu statuieren.
So gelingt es immer wieder mehr oder weniger erfolgreich sowohl auf individueller Ebene Menschen mit emanzipatorischen Anliegen auszuschalten als auch auf gesellschaftlicher Ebene diesen Anliegen mittels der beliebten Gleichsetzung von Legalität und Legitimität die Unterstützung zu entziehen. Damit geht die Gewalt der Verfolgungsorgane über die Gewalt der Justiz mit ihren Vollstreckungsorganen auf in der Gewalt alltäglicher, kapitalistischer Praxis.
So widerlich die hier immer wieder an die Oberfläche tretende Gewalt ist, so wenig sticht sie aus dem heraus, was tagtäglich passiert. Das, was der bürgerliche Staat für sich beansprucht, heißt nicht umsonst Gewaltmonopol. Noch mehr als andere sind davon Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten betroffen. Oury Jalloh und Laye Konde, um nur zwei Beispiele zu nennen, waren körperlich unversehrt, bevor sie in die Hand der deutschen Polizei gerieten. Kurze Zeit später waren beide tot. Laye Konde, den die Beamtinnen und Beamten verdächtigten, mit Drogen zu dealen, wurde so lange gewaltsam Brechmittel und Wasser eingeflößt, bis der Tod durch Ertrinken eintrat. Die Bremer Einsatzkräfte handelten hier ähnlich wie die Hamburger Polizei, in deren Gewalt Achidi John bereits drei Jahre vorher bei einem Brechmitteleinsatz starb. Oury Jalloh verbrannte, an allen Gliedern fixiert, in einer Dessauer Polizeizelle, nachdem ihm zuvor noch Nase und Mittelohr zertrümmert worden waren. Angeblich soll er, obwohl er vorher mehrfach durchsucht wurde und sich nicht bewegen konnte, die feuerfeste Matratze, auf der er lag, aufgeschlitzt und die Füllung mit einem Feuerzeug angezündet haben. Die Verantwortlichen können sich in allen drei Fällen in ihrem Handeln bestätigt fühlen. Der Tod Achidi Johns war der Hamburger Staatsanwaltschaft nicht mal ein ordentliches Ermittlungsverfahren wert. In den anderen beiden Fällen konnten erst durch massive öffentliche Proteste Prozesse erzwungen werden. Das Ergebnis war allerdings wie befürchtet, denn auch hier zeigten die Gerichte erwartbarerweise großes Interesse daran, dass die herrschenden Zustände so unterträglich bleiben wie sie sind: Sowohl der Polizeiarzt, während dessen Behandlung Laye Konde ums Leben kam, als auch die Beamtinnen und Beamten, in deren Gewalt Oury Jalloh starb, wurden Anfang Dezember 2008 freigesprochen. Manchen mögen diese Ereignisse als grausige Einzelfälle erscheinen - sie sind alles andere als das. Sie stellen keinen Bruch mit der deutschen Migrationspolitik dar, sondern sind im Gegenteil lediglich ihre konsequente Zuspitzung. Abschottung und militärische Aufrüstung der Grenzen, rassistische Polizeikontrollen, Residenzpflicht, Ausschluß von Gesundheitsversorgung und Bildung, Gutscheinsystem, Lagerunterbringung, Psychoterror, Inhaftierung und schließlich die Abschiebung - Das Arsenal, das der Staat gegen Menschen ohne deutschen Pass auffährt, ist so umfangreich wie ekelhaft. "Es gibt viele Arten zu töten", schrieb Bertolt Brecht:
"„Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen,
einem das Brot entziehen,
einen von einer Krankheit nicht heilen,
einen in eine schlechte Wohnung stecken,
einen durch Arbeit zu Tode schinden,
einen zum Selbstmord treiben,
einen in den Krieg führen usw.
Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten."
Deutschland tötet - von Hamburg bis zum Hindukusch. Von Leuten, die angesichts der gewaltsamen Verfrachtung von Menschen in Folter, Elend und Tod keine Träne vergießen, wollen wir kein Gejammer hören, wenn einer von ihnen eine Prellung erleidet. Sie sind mitverantwortlich für die alltägliche Gewalt, die wir abschaffen wollen. "Alles muss anders werden!", hieß es im Aufruf zum letztjährigen Antira-Camp. Wir halten daran fest. Wir kämpfen weiterhin für "Eine andere Welt, in der Wir alle solidarisch miteinander leben, ohne Ausgrenzung und Ausbeutung, ohne Rassismus und Sexismus, ohne Nationen, ohne Herrschaft, ohne Diskriminierung, eine Welt ohne Strukturen, in denen das physische und psychische Sterben an der Tagesordnung liegt und der Status Quo weiter Seelen und Körper zerschlägt. Eine Welt, die die Vergangenheit niemals
vergisst, mit der Gegenwart bricht und mit einem Lachen in eine andere Zukunft geht."