Die „globalen sozialen Rechte“ – ein Unterwerfungsdiskurs
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I. Unsere These: Der Großteil und Kern des Diskurses über globale soziale Rechte (GSR) zielt objektiv (teils auch bewusst) auf die reformistische Integration weltweiter Kämpfe in einen neuen kapitalistischen, staatsaffirmativen Unterwerfungstypus ab, der von sich neu formierenden reformistischen Eliten betrieben wird. Vorweg ist zu sagen, dass dies natürlich nicht für alle Teilnehmer am GSR-Diskurs gilt und zunächst einer gründlichen Klärung des „Rechtsverständnisses“ und der jeweiligen Position der Diskursteilnehmer bedarf. Das kann nicht umfassend geleistet werden. Dazu folgende Überlegungen.
II. Diskursteilnehmer und Rechtsverständnis
Um die politische Bedeutung und den Charakter des Diskurses zu verstehen, bedarf es zunächst einer Klärung, wer ihn führt und was unter „Recht“ überhaupt verstanden wird. Weltweit kämpfen Milliarden Menschen gegen die Zerstörung von sozialen Zusammenhängen, die Beseitigung tradierter rechtlicher Garantien und die neuen Formen der sozialen Verfügung. In den Berichten über die Kampfformen etwa der chinesischen Wanderarbeiter und Wanderarbeiterinnen (Dadong-mei/Dagong-zai) sind Rechtsfragen bedeutungslos. Die Frauen und Männer organisieren ihren sozialen Zusammenhalt, ihre Überlebensmöglichkeiten und Kampfzusammenhänge. Sie wissen, dass das Recht und die Macht, die über ihr Leben verfügen, auf der Seite ihrer Ausbeuter und Peiniger sind. Sie wissen was herrschendes Recht bedeutet (das Recht der Herrschenden) und sie bringen dagegen ein Verständnis ihrer selbst und ihrer moralischen Werte im Kampf selbst als „soziale Revolution“ zum Ausdruck.1 Das Rechtsverständnis, das in den Kämpfen weltweit vorherrscht, geht realistisch von der Funktion des Rechts im Kapitalismus als Regulierung von Unterwerfung und Ausbeutung aus, weil es aus der Perspektive des Kampfes so erkannt, erlebt und erlitten wird. Das gilt auch für direkte und unmittelbare Kampfauseinandersetzungen in den Metropolen. Dies ist sehr wichtig, weil wir bedenken müssen, dass die kämpfenden Menschen weltweit nicht etwa „Subalterne“ im beklagenswerten Verständnis der beobachtenden Intelligenz sind, sondern Subjekte selbstständiger Organisation, Weltdeutung, Wirklichkeitsverständnisse. Auf diesem Hintergrund erweist sich die Debatte um GSR als Diskurs organisierender, intellektueller Eliten. Hierauf deutet auch der spezifisch wolkige Umgang mit dem Verständnis von „Recht“, der nicht analytische, rechtsphilosophische und -soziologische Umgang mit „Recht“. Die geringe Beachtung, die der Bedeutung des „Rechts“ im historischen Kontext von Gesellschaft und Ausbeutungs- und Machtverhältnissen geschenkt wird, hat einen hohen symptomatischen Wert. Angefangen mit den Sophisten (den griechischen Aufklärern) wird durch die Geschichte hindurch Recht von Machthabern wie auch Gegnern als Form der gewaltförmigen Machtausübung betrachtet. Der Typus „Recht“ und „Rechte“ wird aus dem jeweils historischen Typus der Machtorganisation verstanden. Ebenso: Recht ist immer ein Instrument der Macht- und Herrschaftsorganisation. Das gilt sogar für die Berufung auf „Menschenrechte, die dem Typus des Machtrechts entgegen gehalten wird (siehe die menschenrechtlich legitimierten „humanitären Interventionen“). Das Marx dies von seiner Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie bis in seine Spätschriften durchgängig so gesehen hat, ist bekannt und braucht hier nicht weiter erörtert zu werden.
Wird dies im GSR-Diskurs berücksichtigt? Eine gründliche Analyse, was die Forderung im Medium des „Rechts“ als Selbstintegration ins Gefüge von Macht und Recht grundsätzlich bedeutet, findet kaum statt. Es liegt auf der Hand, dass schon die Forderung nach „Recht(en)“ eine solche Selbsteinspeisung in das staatliche Machtgefüge impliziert. Zugespitzt: die Frage wird nicht intensiv genug diskutiert, dass im Diskurs der GSR die Aufforderung enthalten ist: die Menschen sollen sich kämpfend und widerstehend zur Geltung bringen, aber sie sollen dies bitteschön in der Unterwerfungsform des „Rechts“ tun. Der Mangel an einer Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Fragwürdigkeit des Rechtsdiskurses gerade in der daran beteiligten Intelligenz spricht für sich, bzw. für ihre partikularen Interessen.
Dasselbe gilt für die Auseinandersetzung. mit den neuen Formen der feingriffigen Verrechtlichung von Macht, die sich im Umbruch zu neuen Strategien der Inwertsetzung formieren. Einige Beispiele, die wir in unserem Buch über „Cluster“ behandelt haben.2 Die Bewirtschaftung der Arbeitslosen geht vom Typus des Verwaltungsakts und Verordnung als Befehl an die Rechtsunterworfenen über zu Zwängen der Selbstunterwerfung und Selbstüberantwortung vor der Drohkulisse des Verelenden- und Verhungernlassens. Diese eröffnet weitgehend regelungs- und rechtsfreie Spielräume im Rahmen des „Profiling“ und „Case Management“, die eine flexible Einwirkung und Menschenführung durch das ARGE-Personal ermöglichen. Verrechtlichung und Entrechtung sind zwei Seiten der staatlich geprägten Rechts-Gewalt-Medaille im weltweiten Prozess kapitalistischer Wert- und Ressourcenerschließung. Dasselbe gilt auch für andere Bereiche, wie Produktion, Schule, Bildung und vor allem auch für neue Zugriffe in den drei Kontinenten im Rahmen der „Kleinkrediteprogramme“, nachdem das soziale Gewebe und die Überlebensgarantien weitgehend zerstört wurden. Der Verrechtlichungstypus ist im Prozess einer Formierung. Entgültiges kann noch nicht gesagt werden. Wir wollen und können hier nicht den Eindruck erwecken, dass wir einen vollen Überblick über die Entwicklung neuer Verrechtlichungsformen haben. Uns erscheint an dieser Stelle vielmehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass der GSR-Diskurs weitgehend auf eine Untersuchung und die Auseinandersetzungsformen der Betroffenen verzichtet. Das eigene Betreiben eines Verrechtlichungsdiskurses erscheint als passender Beitrag zu diesem Prozess. Die Einschreibung der Motive und Bedürfnisse der Revolte ins staatliche und überpositive Recht. Die Botschaft lautet: bringt euch mit euren Kämpfen ein, aber in der Form des Rechts, Verrechtlicht euer berechtigtes Anliegen, eure kapitalfeindliche Moral. Dies mag auch dadurch befördert sein, dass inzwischen der linke intellektuelle Diskurs teilweise nicht mehr von der Vorstellung eines grundlegenden Antagonismus (der früher Dialektik genannt wurde) zwischen dem Kapital und den dagegen gerichteten Kämpfen ausgeht, sondern diesen Kämpfen ein „Außen“, ein antikapitalistisches „Außen“ von vorne herein nicht mehr zugesteht (die Debatte über Gouvernementalität und Multitude).3 Ihre soziale „Utopie“ liegt hofferisch in der technologisch dominierten Kapitalentwicklung, eine linke Variante vom Ende der Geschichte, die das Bestehende verewigen will. So gesehen erscheinen GSR-Diskurs und das neue Verständnis sich einbringender Kämpfe, die kein Außen zum Kapitalismus mehr darstellen, als zwei strategische Seiten derselben Medaille.
III. Dem entsprechen auch spezifische Leerstellen und blinde Flecke des GSR-Diskurses, die nach Erklärung regelrecht schreien. Welchen Rahmen der Geltendmachung von Rechten stellen sich die Diskursteilnehmer überhaupt vor? Wer ist der Adressat von Forderungen und Rechtsbehauptungen? In der Vergangenheit war der Nationalstaat der Rahmen der Auseinandersetzungen um soziale und politische Rechte. Dieser Rahmen ist weitgehend dereguliert und gesprengt. Das Kapital, die großen Unternehmen haben ihre Machtposition als transnationaler Akteure gefestigt, obwohl zugleich sie ihre „Heimat“, ihre Basis in den Metropolen behaupten müssen, allein, um die Gewalt- und Rechtsmittel zur Kontrolle und Niederhaltung der Revolte im nationalstaatlich völkerrechtsgeschützten Raum organisieren zu können.
Wir haben die Überantwortung von Macht an diese Unternehmen und die entsprechende Deregulierung von rechtlichen Garantien in den letzten 20 Jahren erlebt. In diesem Kontext ist deutlich geworden, dass Rechtsentwicklungen auf dem Gebiet des Zivilrechts über die großen Unternehmen auf vertraglicher Basis vorangetrieben wurden, ebenso wie Regelungen im Wege von Public-Privat-Partnerships. An welchem Rahmen orientieren die Akteure des GSR-Diskurses ihr Rechtsverständnis, in welchem Rahmen erheben sie ihre Forderungen, wer ist ihr Adressat? Etwa multinationale Unternehmen, mit denen sie dann vielleicht fairtrade handelseinig werden? Ausdrücklich jedenfalls wird diese Frage nicht erörtert. Was einzelne Akteure im Hinterkopf haben, bleibt zu erörtern. Da ein globaler Machtrahmen vom Typus Nationalstaat (allen Weltregierungsphantasien mangelt es am Souverän) weder zu erkennen, noch zu erwarten ist, bleibt nur die Form des flexiblen Arrangements übrig. Die Frage stellt sich ernsthaft: wollen die Protagonisten des GSR-Diskurses eine weltweite Verhandlungsmacht zwecks Etablierung neuer Regulierungstypen, die die Ausbeutungsbedingungen hinfort regulieren sollen? Die Frage danach ist zugleich die Frage: wer agiert im Kontext der globalen Operationen von NGO’s? Denn es werden fraglos die Arrangements von Kapital, NGO’s und lokalen Machthabern des „Warlord-Typus“ sein, über die die Regulierung der Ausbeutung sich formieren wird.
Eine weitere Leerstelle ist: was soll mit denjenigen passieren, die nicht unter die Voraussetzungen der Rechtsgewährung fallen oder die dem im GSR-Diskurs ausgesparten Verfahren der Rechtssetzung widersprechen oder sie aus andern Gründen nicht wollen etc. Werden sie ausgesondert? Bleiben sie am Rande der Verrechtlichung als Überflüssige liegen? Werden sie dafür sanktioniert, dass sie nicht mitmachen? Wer formuliert die Bedingungen? Da, wo der Kampf gegen die neuen Sozialtechniken der Selbstunterwerfung nicht mehr in den Mittelpunkte gestellt wird, ja nicht einmal mehr thematisiert wird, signalisiert die Forderung nach Rechten, die Selbsteinbindung in den Prozess der Verrechtlichung vor allem eines: Wir reduzieren den Kampf gegen des Kapitalismus auf die Rechtsfrage. Wir handeln die Bedingungen mit euch aus – kämpferisch natürlich. Das Kapital wird’s gerne hören. Es ist das, was es braucht, um aus den aktuellen Blockierungen herauszukommen. Und schließlich: wer legitimiert die notwendige Rechtsdurchsetzungsgewalt? Welche Diskussionen werden überhaupt über den Zusammenhang von Recht und Gewalt geführt, einschließlich des offensichtlich nicht hinterfragten staatlichen Gewaltmonopols? Denn: wer „Recht“ sagt, sagt zugleich „rechtlos“, das Recht der einen ist die Rechtlosigkeit der anderen.
Die Tatsache, dass genau dies alles im Rahmen des Diskurses, der ja immerhin von Vertretern der linken Intelligenz betrieben wird, nicht thematisiert wird, gibt Aufschluss über das Diskurs-Management und hat große Bedeutung für die Analyse seiner Zielrichtungen und seines Sinns. Sie lassen nur den Schluss zu, dass es darauf überhaupt nicht ankommt. Das würde bedeuten, dass dem GSR-Dirskurs die Bedeutung eines integrativen, besser hegemonialen Sammlungsdiskurses zukäme.
IV. Von besonderer Bedeutung sind all diese Gesichtspunkte, weil das Kapital weltweit dringend auf einen „neuen Reformismus“ angewiesen ist, um die zunehmenden Spannungen zu den Ausgebeuteten und zu den Entrechteten, zu den als Weltüberflüssige Degradierten zu überwinden. Die Konturen eines neuen Reformismus lassen sich auf dem Gebiet des Regulierungs- und Rechtsverständnisses ausmachen, aber auch in den Formen neuer Parteianbindung. Wir dürfen nicht vergessen: die Grünen haben uns vorgemacht, das, was einmal links war, nicht links bleiben muss, und dass eine Linke keine radikale Linke ist, nur weil man sie so etikettiert.
V. Das schwerwiegendste Kriterium liegt jedoch in der Tatsache, dass nicht mehr die Vereinheitlichung sozialer Fronten der verschiedenen sozialen und politischen Auseinandersetzungen gesucht und betrieben wird, sondern die Vereinheitlichung im Begriff und im Medium des Rechts staatskonform übereignet wird, was immer es in der neuen Situation bedeutet. Es gibt hier in der Metropole auch diese kapitalinkompatiblen Fronten: von der Produktion über die ARGE bis zur Universität. Sie sind dringend auf eine übergreifende Verbindung angewiesen. Andere, noch utopische Vergesellschaftungsformen lassen sich nur in diesen Auseinandersetzungen und mit ihren Akteuren finden, die ihre eigenen Regeln, kollektiven und individuellen Bedürfnisse und moralischen Werte entwickeln. Selbstredend spielen Vorstellungen von Würde und sozialer Gerechtigkeit eine bedeutende Rolle in diesen Konfrontationen. Sie werden aber nicht an den Staat geheftet wie zu beachtende Merkzettel, sondern realisieren sich in den sozialen Lernprozessen in den konkreten Kämpfen. Lernprozesse, Erfahrungshorizonte mit offenem Ausgang. Keine rechts- und staatshofferische Kanalisierung. Wir haben das beim Streik bei Gate-Gourmet, bei den Auseinandersetzungen im Rahmen der neuen Arbeitsbewirtschaftung und an den Unis erlebt. Der Kapitalismus hat längst einen gemeinsamen strategischen Nenner in der Organisation der Zwänge zur Selbstunterwerfung gefunden. Die Linke sucht zum großen Teil die Auseinandersetzung mit den unmittelbaren Sozialtechniken und Verrechtlichungsstrategien offenbar nicht mehr, zumindest was den GSR-Diskurs anbelangt, sie geht gleich auf die Ebene der rechtsförmlichen, nur staatsmonopolgewaltig durchsetzbaren Forderungen mit dem Ziel, eine gesellschaftliche Linke in ein staatsreformistisches, hegemoniales Projekt einzubinden.
Dabei wäre es wichtig, von verbundenen Fronten in Europa den Zugang zu den Auseinandersetzungen der chinesischen Dagong-mei und afrikanischen Slums zu suchen. Das Selbstbewusstsein, die Selbstbehauptung der Subjekte hat ihren Ort in den praktischen Auseinandersetzungen und nicht im Recht und seiner staatlichen Durchsetzungsgewalt. Wenn die Kämpfe sich zusammenführen, dann wird den Menschen „das Recht“ schon nachgetragen werden, denn dann wird sich erweisen, dass das Kapital (wie in allen vorhergehenden Zyklen) auf eine Verrechtlichung angewiesen ist. Die vom GSR-Diskurs betriebene Illusion des Rechts dient ihnen nicht, sie gießt das weltweite Aufbegehren und die existenziellen Revolten in die Formen rechtlicher Versöhnung, der Verrechtlichung der Forderungen nach Partizipation. „Partizipation“ ist ein Schlüsselwort des GSR-Diskurses. Partizipation an was? An der Entwicklung des Kapitalismus, als antagonistisches Moment, aber im Rahmen seiner Entwicklung? Es war dies der Grundgedanke des Reformismus seit seinen Anfängen vor dem ersten Weltkrieg. Nicht umsonst arbeitet Thomas Seibert, einer der zentralen Betreiber des GSR-Diskurses an der „Komplizenschaft zwischen der moderaten und der radikalen Linken“ mit der Linkspartei4. So gesehen erscheint der GSR-Diskurs als Dienstleistung an der Globalisierung kapitalistischer Produktivität in der Entwicklung eines Neoreformismus, so kämpferisch, wie es die Reformisten vor hundert Jahren waren: nach beiden Seiten nämlich.
Wir haben unsere oben aufgestellte These aus den spezifischen Charakteristika des GSR-Diskurses selbst gewonnen. Sie sind es, die Naivität der diskursiven Auseinandersetzungen, die uns so bestürzen. Handelt es sich um Irrtümer? Schwer zu sagen. Jedenfalls ist das „Begehren“ der Menschen auf das Bewusstsein, zumal das kritische Bewusstsein nicht angewiesen, um sich seine Wege zu bahnen und sich durchzusetzen. Insofern wäre schon etwas gewonnen, wenn dieser Beitrag als Sammlung kritischer Anfragen betrachtet würde, von dem aus die Diskussion des Verhältnisses von Macht, Recht und Gewalt betrieben werden könnte. Die soziale Utopie, die viele Disputanten im GSR-Diskurs suchen und zu finden meinen, werden sie nicht im Machtrecht der Staatsreformisten finden, da sind wir uns sicher, sondern sie können einen Vorgeschmack finden allein in der Würde und der kollektiven Moral derer, die die Herrschaft in ihren Kämpfen und Protesten abzuschütteln und zu brechen versuchen, ohne wieder Herrschaft aufzubauen, derer, die sich nicht regieren lassen oder repräsentiert sehen wollen.
Detlef Hartmann / Dirk Vogelskamp, Mai 08
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