29.12.06 // Massensterben an der EU-Aussengrenze :: Pro Asyl
Presseerklärung
29. Dezember 2006
2006: die höchste Todesrate an den Außengrenzen - kaum noch Asylgesuche
PRO ASYL: "Europa trägt maßgeblich Verantwortung für das Massensterben"
"Die Festung Europa steht. Deutschland und die anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union setzen auf Flüchtlingsabwehr um jeden Preis. 2006 ist das Jahr mit der höchsten Todesrate an den europäischen Außengrenzen und einem neuen historischen Tiefstand bei den Asylgesuchen". So die Jahresbilanz von PRO ASYL zur europäischen Flüchtlingspolitik.
Nach Angaben der spanischen Behörden kamen 2006 circa 6.000 Flüchtlinge und Migranten auf dem Weg von Westafrika zu den Kanarischen Inseln ums Leben. Die Dunkelziffer der Todesfälle an den europäischen Südgrenzen bleibt hoch. "Europa trägt maßgeblich Verantwortung für das Massensterben", so Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL. Die EU-Staaten seien bereit, elementare Menschenrechtsstandards aufzugeben. Drittstaaten wie Libyen, Marokko, Mauretanien, der Ukraine, der Türkei etc. werde in einer zynischen Arbeitsteilung eine Türsteherfunktion vor den Toren der 'Festung Europa' zugewiesen.
Die Asylzahlen in Deutschland und Europa erreichen einen neuen historischen Tiefstand. In Deutschland wurden 2006 rund 20.000 neue Asylgesuche registriert - der niedrigste Stand seit 1977. Insgesamt verzeichneten die 25 EU-Staaten 2006 weniger als 200.000 Asylanträge.
Die zentrale Frage an die kommende EU-Präsidentschaft Deutschlands ist: Findet eine Gemeinschaft von 27 Demokratien auf das Massensterben an den Außengrenzen eine andere Antwort als militärische Abwehrmaßnahmen, Auslagerung des Flüchtlingsschutzes und fortgesetzte Menschenrechtsverletzungen? Sie bleibt bei der Lektüre des Programms der deutschen EU-Präsidentschaft 'Europa gelingt gemeinsam' unbeantwortet. Das von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble vorgelegte Programm folgt einer restriktiven Agenda und blendet Menschenrechte und Flüchtlingsschutz aus. "Mehr Grenzschutz, mehr Rückübernahmeabkommen und mehr gemeinsame Abschiebungen bilden die Schlüsselelemente auf der Agenda des Bundesinnenministeriums", so Kopp.
Aus Sicht von PRO ASYL muss die Durchsetzung der Menschenrechte oberste Priorität für die deutsche EU-Präsidentschaft haben: Diese gelten für alle Menschen in Flucht- bzw. Migrationsbewegungen. Flüchtlingen ist der gefahrenfreie Zugang zum EU-Territorium und zu einem fairen Asylverfahren zu gewährleisten. Jegliche Kooperation mit Drittstaaten, in denen die Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht geachtet werden, ist einzustellen. Europa braucht legale Einwanderungsmöglichkeiten, damit Migranten nicht lebensgefährliche Wege beschreiten müssen.
gez. Karl Kopp
Europareferent von PRO ASYL
Vorstandsmitglied von ECRE, Europäischer Flüchtlingsrat
Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen - Schlaglichter:
Im Juli 2006 wurden in Melilla drei Menschen bei dem Versuch erschossen, die Grenzzäune nach Europa zu überwinden. Diese Todesfälle an der spanisch-marokkanischen Grenze sind bis heute nicht aufgeklärt.
Griechenland steht weiterhin im Verdacht, im September 2006 Flüchtlinge ins Meer geworfen zu haben. Mindestens sechs Menschen starben, weil Beamte der griechischen Küstenwache, so die Aussagen Überlebender, rund 40 Menschen, die sie vor der Insel Chios aufgegriffen hatten, ins Meer zurück stießen.
An den östlichen Außengrenzen - nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit - finden völkerrechtswidrige Zurückweisungen von Flüchtlingen in die Ukraine statt. UNHCR berichtete im März 2006 von Kettenabschiebungen. Tschetschenischen Schutzsuchenden, die es in die Slowakei, auf EU-Territorium schafften, wurde entgegen der geltenden Rechtslage der Zugang zum Asylverfahren verweigert. Statt dessen wurden die Betroffenen in die Ukraine zurückgeschickt und von dort weiter in die Russische Föderation abgeschoben.
Seit Mitte 2006 spielt die europäische Grenzschutzagentur Frontex bei den Abfangmaßnahmen weit vor den Toren Europas eine gewichtige Rolle. Flüchtlingsboote werden im Zuge von Frontex-Operationen bereits in internationalen Gewässern aufgebracht und in afrikanische Transit- oder Herkunftsländer zurückverfrachtet. Alleine bei den 'Out of Area'-Einsätzen wurden zwischen August und Dezember 2006 3.500 Flüchtlinge und Migranten auf dem Atlantik oder vor den Küsten Westafrikas aufgegriffen und nach Senegal und Mauretanien zurückgeschickt. (Frontex-Presseerklärung vom 19.12.2006). Wie die Grenzschützer im Frontexverband auf hoher See mit Schutzbedürftigen umgehen, stellt Frontex-Chef Oberst Ilkka Laitinen lapidar klar: "Das sind keine Flüchtlinge, sondern illegale Migranten." (Standard vom 21.12.2006)
Ein Bericht von Human Rights Watch vom September 2006 beschreibt, wie der EU- Kooperationspartner Libyen mit Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen umgeht: Sie werden entrechtet. Willkürliche Verhaftung, Misshandlungen im Gefängnis und zwangsweise Abschiebungen in Verfolgerländer sind an der Tagesordnung. Europa schaut weg.
Italien hat von Oktober 2004 bis Mitte 2006 über 4000 Menschen nach Libyen abgeschoben, und zwar ohne Prüfung der Fluchtgründe.
Über 200 000 Personen wurden in den letzten vier Jahren aus Libyen abgeschoben - mit finanzieller Hilfe der EU. Die EU-Justiz- und Innenminister haben auf einem informellen Treffen am 22. September 2006 in Tampere Libyen drei Millionen Euro für den Kauf von Patrouillenfahrzeugen und Nachtsichtgeräten zugesagt. Als Gegenleistung erhofft sich die EU nach Angaben von Kommissar Franco Frattini mehr Entgegenkommen Libyens bei den Grenzpatrouillen im Mittelmeer.