3.10.05 // Erster IPPNW-Bericht zur Situation Gazales
Dr. med. Gisela Penteker, Am Deich 17, 21784 Geversdorf,
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den 3.10.05
IPPNW
Türkeibeauftragte
des Vorstands
Studienreise in die Türkei 2005
Im Rahmen einer Studienreise in die Türkei besuchten wir im Auftrag des niedersächsischen Flüchtlingsrats und in Absprache mit den Angehörigen und Unterstützern in Deutschland aus dem Landkreis Hildesheim abgeschobene Flüchtlinge in Izmir.
Die Flüchtlinge gehören der Gruppe der Mahalmi an, einer arabisch sprechenden Minderheit aus dem Südosten der Türkei, deren Angehörige ab 1952 in einem kontinuierlichen, jahrzehnte andauernden Migrationsprozess aus der Türkei in den Libanon emigrierten, weil sie sich doert weniger Unterdrückung und bessere Lebensbedingungen versprachen. Im Libanon wurden die Mahalmi als „Kurden“ bezeichnet und wahrgenommen. Streng genommen handelt es sich aber bei ihnen um eine arabische Minderheit. Aufgrund des eskalierenden Bürgerkriegs im Libanon flohen viele Mahalmi in den 80ger Jahren aus dem Libanon direkt oder auch auf dem Umweg über die Türkei nach Deutschland und erhielten in Niedersachsen als staatenlose Kurden aus dem Libanon ein Bleiberecht nach der niedersächsischen Bleiberechtsregelung von 1990. Jetzt werfen einige niedersächsische Ausländerbehörden den betroffenen Flüchtlingen vor, ihre türkischen Wurzeln verheimlicht zu haben, und betreiben eine Ausweisung der der seit mehr als 15 Jahre in Deutschland lebenden Familien in die Türkei. Das führt insbesondere für die in Deutschland geborenen Kinder zu großen Schwierigkeiten, da sie keinerlei Verbindung in die Türkei haben und kein Türkisch sprechen.
Besuch bei Gazale Salame:
Gazale Salame kam im Alter von 8 Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland. Sie lebte mit ihrem Mann und drei Töchtern im Landkreis Hildesheim. Obwohl das aufenthaltsrechtliche Verfahren ihres Mannes noch nicht abgeschlossen ist, leitete der Landkreis Hildesheim die Abschiebung von Gazale Salame und ihrer einjährigen Tochter in die Türkei an. Am 10.2.2005 wurde sie mit der kleinen Tochter abgeholt, als der Mann die größeren Töchter zur Schule brachte, und nach Istanbul abgeschoben. Sie war im dritten Monat schwanger.
Wir waren vom 12. bis 15.9.05 in Izmir, wo wir uns als Gäste der Universität über das türkische Gesundheitssystem informierten. Dabei hatten wir Gelegenheit zu den im Folgenden beschriebenen Besuchen:
Als wir telefonisch unseren Besuch ankündigen wollen, ist Frau Salame gerade mit ihrem neugeborenen Sohn zur Untersuchung im Krankenhaus. Sie weiß nicht, ob sie uns sehen will. Bei einem erneuten Telefonat am Abend stimmt sie dann doch zu und wir verabreden uns für den nächsten Tag.
Wir lassen uns mit einem Taxi in die Nähe der angegebenen Strasse bringen und gehen dann zu Fuß weiter. Es ist ein Viertel von Izmir, das offensichtlich aus einem Slumgebiet (Gececondu) entstanden ist. Dafür sprechen die steilen, ungeteerten Strassen und Gassen, die keine städteplanerische Ordnung erkennen lassen.
Frau Salame führt uns in ein Zimmer und erzählt in fehlerfreiem Deutsch, was sie seit ihrer Abschiebung erlebt hat.
Bei der Ankunft in Istanbul wurden alle in der Polizeistation des Flughafens eingesperrt zur Überprüfung der Personalien und eventueller Vorstrafen. Normalerweise bleibt man dort mehrere Tage. Auch die Schwangere und ihre kleine Tochter schliefen auf dem Boden mit den anderen Abgeschobenen. Ihre Eltern hatten einen Bekannten in Istanbul informiert, der sie mit dem Geld, das sie aus Deutschland mitgenommen hatte, nach einem Tag auslöste. Er setzte sie in den Bus nach Izmir mit der Adresse der Familie, die sich bereit erklärt hatte, sie aufzunehmen. Es sind auch Mahalmi aus der Gegend von Mardin, mit denen sie Arabisch sprechen kann. Dor lebt sie nun seit 7 ½ Monaten in deren „Guter Stube“. Es gibt keinen Platz für sie in den Schränken. Sie lebt noch immer aus dem Koffer. Sie isst mit der Familie. Selber kochen kann sie nicht, weil das extra Gas verbrauchen würde. Sie leben jetzt im 2.Stock, anfangs im Erdgeschoss des Hauses. Dort war es im Winter kalt, feucht und schimmelig.
Mit dem Geld, das sie aus Deutschland bekommt, konnte sie die Entbindung im Krankenhaus bezahlen, manchmal auch der Gastfamilie etwas geben, die keine Miete verlangt, aber nach 7 ½ Monaten ungeduldig wird. Das Söhnchen ist jetzt 15 Tage alt. Sie hat ein kleines Bettchen für ihn, weil die Kinder der Gastfamilie ihn sonst nicht in Ruhe lassen. Die Tochter schläft auf einer Matratze und lässt sich durch unser Gespräch nicht stören.
Der Säugling hat eine Neugeborenen Gelbsucht. Sie muss täglich mit ihm mit dem Taxi ins weit entfernte Kinderkrankenhaus fahren. Der Kleine musste für drei Tage unter die Lampe. Sie durfte ihn nur zu den Stillzeiten sehen und schlief auf dem Boden im Krankenhausgarten, weil es zu teuer war, zwischendurch nach Hause zu fahren, Die kleine Tochter blieb bei der Gastfamilie. Dort wird sie geschlagen und besonders von dem 9jährigen Sohn gequält. Niemand von den Erwachsenen verhindert das und die Mutter muss auch gute Miene zum bösen Spiel machen. Auch während unseres Besuches ließ er nicht von der Kleinen ab. Das führt dazu, dass Frau Salame sich meist in ihrem Zimmer einschließt.
Der Säugling hat eine Bindehautentzündung, seit er unter der Lampe war. Das Rezept für die Augentropfen hat sie noch nicht eingelöst. Es soll 6 YTL (4 Euro) kosten. Der Kinderarzt hat ihr verboten, die Vitamin D Tabletten aus Deutschland zu geben und ihr stattdessen Tropfen aufgeschrieben.
Über ihre Familie in Deutschland kann sie kaum sprechen. Sie weint, wenn sie an die größeren Kinder denkt, mit denen sie nur gelegentlich telefonieren kann und die nicht verstehen, warum die Mama nicht nach Hause kommt. „Ich flehe Euch an, holt mich zurück. Ich gehöre nicht hierher!“
Wir bieten ihr an, die Augentropfen aus einer Apotheke an der Hauptstrasse zu holen. Sie gibt uns noch ein paar kleine Wünsche mit. Den Wunsch nach einer Nabelbinde für den Kleinen und nach einem Still-BH können wir in der näheren Umgebung nicht erfüllen.
Als wir mit den Sachen zurück kommen, sitzen viele Leute im Zimmer und warten neugierig darauf, was wir mitgebracht haben. Frau Selame bittet uns, die Leute aus dem Zimmer zu schicken. Sie gehen etwas unwillig und zögerlich. Erst dann packen wir die Einkäufe aus und lassen noch etwas Geld da.
Das Oberhaupt der Familie will uns jetzt begrüßen. Dort wird heute ein Sohn, fast noch ein Kind, verheiratet, und viele Gäste sind da. Jetzt erst wird uns etwas zum Trinken angeboten. Wir müssen ablehnen, da wir mit dem Rest unserer Reisegruppe zur Weiterfahrt verabredet sind. Frau Selame ist sichtlich bemüht, ein freundliches Gesicht zu machen. Die kleine Tochter hält sich schüchtern und ängstlich an ihrem Rock fest.
Frau Selame wirkt erschöpft mit tiefen Ringen unter den Augen. Sie wirkt sehr verstört. Oft antwortet sie nicht auf unsere Fragen, sie scheint sie gar nicht wahrzunehmen. Wir müssen immer wieder nachfragen. Sie selbst ist seit der Entbindung nicht beim Arzt gewesen. Sie traut den Ärzten hier nicht, obwohl sie sich inzwischen auf Türkisch verständigen kann. Die Behandlung des Kleinen bezahlt sie mit dem Geld aus Deutschland. Eine Yesil Kart ( eine Versichertenkarte für Mittellose) bekommt sie nicht. Dafür braucht sie eine Bescheinigung aus Mardin, die sie dort persönlich beantragen müsste. Mit den beiden Kindern ist es aber völlig unmöglich, die weite Reise nach Mardin zu machen, zumal sie niemanden hat, der sie begleiten könnte.
Ihr Mann und die Geschwister haben den kleinen Bruder noch nicht gesehen. Zumindest werden wir nun Fotos schicken können.
Frau Selame hat große Angst vor den Fragen ihrer Nachbarn, wenn wir wieder gehen.
„Holt mich zurück zu meiner Familie. Ich gehöre hier nicht hin!“
Besuch bei Familie Ökmen
Frau Ökmen wurde mit drei Kindern vor 10 Wochen auch aus dem Landkreis Hildesheim abgeschoben. Der Vater konnte zunächst bleiben, weil die jüngere Tochter zum Zeitpunkt der Abschiebung in stationärer psychiatrischer Behandlung war. Später reisten die Beiden „freiwillig“ aus:
Wir fahren mit dem Bus bis zum Hauptbahnhof und kommen durch schmale ungeteerte Gassen in ein sehr einfaches Viertel mit zwei- bis dreigeschossigen Häusern. Die offene Tür des gesuchten Hauses gibt den Blick frei auf ein schummriges Treppenhaus und einen Raum, in dem mehrere Frauen arbeiteten.
Wir fragen nach Familie Ökmen. Rufe schallen durch`s Haus. Eine blonde junge Frau in Jeans bittet uns nach oben. Sie ist zunächst sehr reserviert, bittet uns aber in das Zimmer, das die Familie seit 10 Wochen bewohnt. Sie spricht akzentfrei Deutsch. Das Haus gehört den Eltern von Frau Ökmen. Im oberen Stock wohnt der jüngere Bruder mit seine Familie. Der Großvater begrüßt uns und läßt uns Kaffee und Nektarinen bringen. Familie Ökmen lebt in diesem einen Zimmer, dem Wohnzimmer der Großeltern, Vater, Mutter und vier Kinder. Nachts werden Matratzen auf dem Boden ausgerollt. Nur die ältere Tochter ist zu Hause. Die psychisch kranke Schwester hat sich unten im Haus versteckt. Sie will mit niemandem reden. Der 14jährige Bruder macht ihnen am meisten Sorgen. Er will nicht in die türkische Schule gehen, weigert sich, türkisch zu lernen, hat keinen Kontakt zu Kindern in seinem Alter. Die deutsche Schule in Izmir kostet 300 YTL (200,-Euro) im Monat. Der kleine Sohn soll in die türkische Schule eingeschult werden, wenn die Originalzeugnisse aus Deutschland da sind. Er braucht eine Schuluniform und wünscht sich einen Batman Sticker. Die Familie lebt zur Zeit von dem, was der Großvater verdient. Er arbeitet nachts als Wachmann in einem Betrieb und bekommt 30 YTL in der Woche. Herr Ökmen hat bisher keine Arbeit gefunden. Frauen arbeiten hier nicht außerhalb des Hauses.
Sie haben die Kleider, die sie bei der Abschiebung an hatten. Die Mutter wäscht sie am Abend. Jetzt im Sommer sind sie morgens wieder trocken.
Die junge Frau erzählt uns von ihrem Leben in Deutschland, von der auf Druck der Eltern abgebrochenen Friseur-Lehre, dem Verlobten, der nichts mehr von sich hören lässt. Sie erzählt, dass die Mutter sich große Vorwürfe macht und den Kindern gegenüber starke Schuldgefühle hat.
Der Vater kommt. Er ist freundlich aber sehr still und bedrückt.
Die Mutter wird aus der Nachbarschaft gerufen. Sie bestätigt, was die Tochter uns erzählt hat. Sie ist ganz krank vor Sorge um den älteren Sohn. Sie hat Angst, dass er sich das Leben nimmt. Er ist immer unterwegs und redet mit niemandem. Gerne würden sie ihm den Besuch der deutschen Schule ermöglichen. Daran ist aber gar nicht zu denken. Bisher ist niemand aus der Familie bei einem Arzt gewesen. Das ist viel zu teuer. Eine Yesil Kart haben sie nicht beantragt. Weil das Haus dem Großvater gehört, würden sie keine bekommen. Alles sei sehr schwierig, weil sie kein Türkisch sprechen. Im Viertel wohnen viele Kurden aus Mardin, mit denen sie sich auf kurdisch und arabisch verständigen, aber auf den Ämtern und beim Arzt muss man türkisch reden.
Die junge Frau traut sich nicht alleine auf die Strasse. Sie wird von den Männern im Viertel als Freiwild betrachtet. Das moderne Izmir ist hier sehr weit entfernt.. Wir erzählen ihr, das es in Izmir ein Goetheinstitut gibt, wo man deutsche Zeitungen und Bücher lesen kann.
Die Familie zeigt uns Bilder der Söhne in ihrem Fußballverein in Deutschland.
Der kleine Sohn Isi ist inzwischen auch ins Zimmer gekommen. Er ist sehr schüchtern, sagt aber dann doch, dass die Jungen hier gar nicht Fußball spielen können und er noch keine Freunde gefunden hat.
Wir fragen, ob es nicht einfacher wäre, ins Dorf bei Mardin zu ziehen. Dort leben die alten Eltern von Herrn Ökmen. Frau Ökmen erzählt, dass sie es versucht haben. Sie seien aber schnell wieder nach Izmir zurückgekehrt. Dort sei die Situation noch viel schlimmer. Die Eltern seien sehr arm und könnten sie nicht unterstützen. Die Tochter schüttelt nur den Kopf und Isi zeigt uns ganz empört seine Arme und Beine, die übersät sind mit Narben nach unzähligen Insektenstichen.
Die ganze Familie ist erkältet. Wir bieten an, mit der Tochter zur nächsten Apotheke zu gehen und sie dann wieder nach Hause zu begleiten. Aber Vater, Mutter und der kleine Isi kommen auch mit. Wir kopieren unseren Stadtplan für die junge Frau und kaufen Hustensaft und Nasenspray. Ein bisschen Geld können wir auch da lassen. Vielleicht reicht es für die Schuluniform und den Batman-Sticker.
LibaSoli:
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